Artur Weigandt
Die Verräter
„Ich kennen das russische Staatsfernsehen, die Propaganda, Fake und Lügen. Ich weiß, was sie über die Jahre mit den Menschen gemacht hat. Putin hat mit aller Macht Narrative in die Köpfe hineingepresst. Für diese Menschen sind alle, die auch nur ansatzweise anders denken, Verräter.“
Fragen an die Familie
Artur Weigandt war als Journalist beim Angriff Russlands auf die Ukraine in Kiew und später in Butscha, und er gehört zu denen, die in den 90ern das untergehende Reich Sowjetunion verließen. In seinem Buch, das Memoir und Essay gleichermaßen ist, fragt er nach den Wurzeln, die im Homo sovieticus verschwinden sollten und doch latent prägend blieben, und er fragt die Menschen seiner Familie, mit Geduld, Unvorgenommenheit und glänzender Beobachtungsgabe.
„Deine Oma ist Belarussin, die Russisch spricht. Dein Großvater ist ein Ukrainer, der kein Ukrainisch kann. Die Mutter deines Vaters ist eine Russlanddeutsche, die eine Mischung aus Ukrainisch und Russisch gesprochen hat. Der Vater deines Vaters ist ein Russlanddeutscher, der kein Deutsch kann.“
Im 18.Jahrhundert von der Zarin ins Land geholt, bauten deutsche Bauern die Wolgarepublik auf, bis Stalin sie als Verräter denunzierte und in Lager verschleppen ließ. Sie landeten in Kasachstan, vergessen vom Rest der Welt, und überlebten auch hier, zusammen mit vielen anderen Heimatlosen. Die große Hungernot, die in den 30er Jahren Millionen von Ukrainer umbrachte, verschonte auch Kasachstan nicht.
Scheinbar friedlich
Artur wurde hier geboren, 1994, nach dem Ende der Sowjetunion, und seine jungen Eltern verließen das Dorf Uspenko, als Russlanddeutsche, die ihren Kindern eine Zukunft bieten wollten. Auch die Mutter, die lieber im russischen Sprachraum geblieben wäre, aber das kranke Kind Artur in Deutschland heilen lassen wollte:
„Russland ist kein Land, in dem sie ihre Kinder großziehen wollte. Hier gab es nichts, was sie uns hätte bieten können. Außer das Narrativ des Kremls. Das Narrativ, mit dem die Völker gegeneinander ausgespielt wurden.“
Die Erinnerungen vieler lassen das Dorf Uspenko lebendig werden, die scheinbar so friedvollen und glorreichen Sowjetzeiten ebenso wie die Wirren des Niedergangs, der vom äußerst bescheidenen Leben nichts übrig ließ. Der Autor lässt sich von den Beschönigungen der Sowjetzeit nicht ablenken, denn schon damals, in Uspenko wie überall im System galt: „Wer den Mächtigsten im Dorf kannte, war abgesichert, solange dieser mächtig blieb.“ Auf seiner Reise zu denen, die damals nach Deutschland gingen, spürt er Enttäuschungen nach, die sich oft in Glorifizierungen der Sowjetzeit verirren und von der stetigen Propaganda in den russischsprachigen Medien angeheizt werden. Rückkehren will dennoch niemand, denn man ahnt, dass auch die Rückkehrer als Verräter gelten, nützlich nur für Propagandazwecke. Und erst die erste postsowjetische Generation, der auch Artur Weigandt angehört, wird sich aus der erzwungenen Entwurzelung mit dem Ziel des allseits verfügbaren Sowjetmenschen und ihren psychischen Folgen lösen und sich entscheiden können. Wie schwer das auch für die Jüngeren ist, ist eine der Schlussfolgerungen Weigandts, die er aus seinen vielen Begegnungen in Deutschland, auf Reisen und auch im Dorf Uspenko mitnehmen kann:
„Vielleicht können Menschen aus der Sowjetunion sich einfach besser eine Maske aufsetzen und für einen Schnappschuss so tun, als lebten sie in der besten aller Welten. Diese Mentalität haben die Eltern der postsowjetischen Generation – meiner Generation – mitgebracht, nein, mitgenommen. Für uns bedeutet das: aufgezwungene Unsichtbarkeit.“
Wenig Hilfe
Sich daraus zu befreien und den Verrat an der russischen Welt bewusst zu vollziehen, die Angst zu überwinden, sichtbar und entscheidungsfähig zu werden, dazu soll das Buch beitragen. Weigand stellt es sehr bewusst in den Kontext des Kampfes um Selbstbestimmung, in der Ukraine, Weißrussland, Kasachstans und vieler anderer Nationalitäten. Dabei verschweigt er nicht, wie wenig Hilfe und Freundlichkeit die Heimkehrer in Deutschland erwartete: Man stempelte sie als ‚Russen‘ ab, die sich assimilieren sollten. Sein kluges, im besten Sinne aufklärerisches Buch öffnet den Blick auf eine neue Zugehörigkeit der postsowjetischen Welt in ihrer ganzen Vielfalt zu Europa.
„Deutschland, das ist ein Land, das fremde Geschichten nur schlecht in seine eigene Geschichte einbetten kann.“
(Lore Kleinert)
Artur Weigandt, *1994 in Kasachstan, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München,
Artur Weigandt „Die Verräter“
Hanser Berlin 2023 , 160 Seiten, 22 Euro
eBook 16,99 Euro