Daniela Krien
Muldental
Einmal pro Monat ein Bericht - was ist das schon angesichts eines Ehemannes, der mit multipler Sklerose im Rollstuhl sitzt und bessere Medikamente bekommen könnte als das in der DDR 1983 möglich war.
Alltägliche Demütigungen
Marie hat schon einmal resigniert, wehrt sich nicht mehr gegen die Kränkungen ihres verbitterten Mannes, und als die Stasi es wieder und wieder versucht, gibt sie dem Druck nach. Vielleicht will der zehnjährige Sohn ja auch eines Tages studieren ...
Anne und Mattis haben es satt, sich von Wessis als "Ossis" beschimpfen zu lassen, die aus einem "Entwicklungsland" kommen ... "wir helfen euch dabei, nicht mehr dumm und faul zu sein." Überall Angriffe, Spitzen, dumme Bemerkungen – alltägliche und schmerzhafte Demütigungen. Im nächsten Supermarkt rächen sie sich auf subtile Weise an Kunden und Kassiererin. Und nicht nur dort.
Termine beim Jobcenter
Bettina und Maren haben Jobcenter und Arbeitslosigkeit satt, sie müssen ihre Kinder allein erziehen und verwirklichen Plan B - mit Hilfe von Günther, einem Kumpel aus ihrem alten Dorf, der es als Anwalt zu etwas gebracht hat und ihnen Kunden zuführen wird. Plan B heißt: Prostitution, allerdings nicht auf Dauer. Juliane ist eigentlich Kunsthistorikerin, verdient ihr Geld aber mit Putzen. Sie hat endgültig resigniert. Die Termine im Jobcenter absolviert sie pünktlich, aber ohne Ergebnis. Als sie in der Wohnung der Freundin, die mit einem Kunstprofessor verheiratet ist, verdächtige Briefe findet, spielt sie kurz mit dem Gedanken einer Erpressung. Otto und Maggie wollen hoch hinaus, der Betrieb schaffte es durch die Wendejahre – großes Auto, neue Küche, zweimal jährlich Urlaub. Bis Otto zu trinken beginnt.
Arrangierte Träume
Daniela Krien schildert Schicksale von Menschen, die es nicht oder fast nicht geschafft haben nach der Wende, die keine Orientierung finden, sich sehnen nach der ruhigen Zeit im Dorf, wo sich alle kannten, alles noch seine Ordnung hatte, man sich mit dem Mangel genauso arrangieren musste, wie mit Sehnsüchten und Träumen von Freiheit. Als die dann plötzlich da ist, kann man sie vor lauter Veränderungen kaum leben, fühlt sich gedemütigt, entwertet, entwürdigt, reagiert mit Rachegefühlen, Depression oder Gewalt – auch gegen sich selbst. Denn die eigene Vergangenheit gilt nichts mehr, die ostdeutsche Provinz schon gar nicht: Muldental ist real, war ein Landkreis in Sachsen, mit der Hauptstadt Grimma. Immer mal wieder wurde aus der Mulde ein wilder Fluß, der alles überschwemmte. Die Menschen dort waren daran gewöhnt, wieder von vorn anzufangen.
Verlierer der Wende
Die Geschichten über Verlierer nach der Wende sind kühl und klar erzählt, mal mit melancholischem, oft mit bitterem Unterton. Sie schockieren, wecken Mitgefühl, aber auch Widerspruch – waren die Wessis tatsächlich so bösartig und ignorant? Daniela Krien hat – wie sie im Vorwort schreibt – Skizzen von Lebensdramen gesammelt,
"Randnotizen, wie wir sie alle täglich hören oder lesen, bildeten schließlich die Grundlage dieses Buchs, das sich vor allem mit dem Kampf vor dem Fall beschäftigt."
Und mit der Schwierigkeit, “unter dem Diktat der Selbstoptimierung” zwischen Schicksal und Schuld zu unterscheiden.
(Christiane Schwalbe)
Daniela Krien, *1975 in Mecklenburg-Vorpommern, Kulturwissenschaftlerin, Drehbuchautorin, lebt in Leipzig
Daniela Krien "Muldental"
Erzählungen, Diogenes 2020, 224 Seiten, 22 Euro
eBook 18,99 Euro, AudioCD 16,49 Euro
Weiterer Buchtipp zu Daniela Krien
"Irgenwann werden wir uns alles erzählen"
"Die Liebe im Ernstfall"