Max Annas
Morduntersuchungskommission
Der Fall Daniela Nitschke
„Ich weiß, dass wir in einem Krieg sind. Und ich weiß, dass es Opfer gibt in so einem Krieg. Aber erstens will ich nicht zu diesen Opfern gehören. Und zweitens geschieht das, was ich mache, ja deshalb, weil niemand von mir weiß, dass ich es tu.“
Dienst auf der Straße
Der Jazzmusiker Billy Ndlovu lebt in Westberlin, und manchmal überbringt er Botschaften an ANC-Mitglieder im Osten der Stadt, von wo aus sie den Kampf gegen das Apartheidregime organisieren, mit Hilfe der DDR-Behörden. Im Jahre 1987 läuft vieles schon nicht mehr rund, und auch Oberleutnant Otto Casdorp, der zur zweiten Morduntersuchungskommission der Hauptstadt versetzt wurde und auch schon mal auf der Straße Dienst tut, kann die Augen vor den Vorzeichen großer Veränderungen nicht länger verschließen. Denn Reagans Rede kann er auch hinter der Mauer hören:
„Tear down this wall!... Er kannte ein paar Wörter und wäre, wenn man ihn gelassen hätte, in den Vereinigten Staaten von Amerika sicher nicht verhungert. So viel konnte er. Viel war es also nicht. Aber was der amerikanische Präsident da eben gesagt hatte, das kapierte er. Mann, das war doch…was wollte der denn damit sagen? Ohne Mauer, das würde doch Krieg bedeuten. Oder nicht?“
Leben als Improvisation
Bis der Musiker und der Polizeibeamte aufeinandertreffen, dauert es lange. Zunächst gibt es zwei Tote im Osten und den verschwundenen Mitarbeiter Wolle, der mit der Ausbildung der Südafrikaner und mit Waffenkäufen zu tun hatte. Hier kommt Erika ins Spiel, die darauf angesetzt wird, den Gründen für sein Verschwinden auf die Spur zu kommen. Eine Frau mittleren Alters, die etwas zu viel trinkt, aber eine ganze Reihe von Ungereimtheiten in der Normannenstraße entdeckt und Zweifel bekommt, ob der Chef, der sie beauftragte, nicht selbst vom Pretoria-Regime geködert wurde. Die 2. Mordkommission ermittelt, warum die junge Daniela, die in einer Druckerei arbeitete, aus einem Fenster gestoßen wurde. Und warum wurde der Musiker, den Billy Ndvolu an seiner Statt nach Ost-Berlin schickte, erschlagen? Auch an seiner Statt? Wird er tatsächlich verfolgt? Die Überlegungen und Ängste des Jazzbassisten strukturieren Tempo und Fortgang des Romans, denn wir sind direkt einbezogen, wenn er etwa erklärt, warum er Jazzmusiker wurde:
„…dass unser ganzes Leben Improvisation ist, dass es unter den Bedingungen der Apartheid überhaupt keine andere Möglichkeit gibt, das Leben in den Griff zu kriegen als mit Improvisation. Weil du nie weißt, ob du morgen noch Arbeit hast. Weil du nie weißt, wovon du das nächste Frühstück bezahlen sollst. Und weil du nie weißt, ob deine Mutter nicht bei einer Verkehrskontrolle von einem verrückten weißen Bullen erschossen wird. Also bleibt dir nur übrig zu improvisieren.“
Zeitgeschichte
Leichtfüßig wie im Jazz bewegen sich die Erzählstränge aufeinander zu, verharren wieder, verknoten sich und treiben einander voran, und auf Miriam Makebas Konzert im Palast der Republik treffen sie aufeinander. In Otto Castorps drittem Fall spielen Verrat und Verteilungskämpfe eine wichtige Rolle im Hintergrund, und nicht alles können die Akteure erkennen, - wie im richtigen Leben. Max Annas ist mit dem Fall einer jungen Frau, für die sich niemand wirklich interessiert, ein wichtiger zeitgeschichtlicher Kriminalroman gelungen, der das Leben im geteilten Berlin in den Kontext der großen weltpolitischen Auseinandersetzungen stellt, mit langem Atem und ohne jemals belehrend zu wirken.
(Lore Kleinert)
Max Annas *1963 in Köln, Journalist und deutscher Schriftsteller, lebt in Berlin
Max Annas "Morduntersuchungskommission"
Der Fall Daniela Nitschke
Roman, Rowohlt Hundert Augen 2022, 352 Seiten, 20 Euro
Taschenbuch 11 Euro, eBook 9,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Max Annas
Die Mauer