Anne Holt
Ein kalter Fall
"Offline zu sein konnte sie wahnsinnig machen. Das Internet war Hanne Wilhelmsens Periskop; so sah sie die Welt, ohne von der Welt gesehen zu werden.“
Vergiftetes Klima
Hanne Wilhelmsen, Kommissarin im erzwungenen Ruhestand, nachdem sie vor 11 Jahren schwer verletzt wurde und im Rollstuhl sitzt, hatte ihr früheres Leben hinter sich gelassen. Doch jetzt holt es sie mit Macht ein: In Oslo gehen zweieinhalb Jahre nach den rechtsextremistischen Breivik-Attentaten Bomben hoch, Menschen sterben, und die vermeintlich islamistischen Anschläge vergiften das Klima in der norwegischen Hauptstadt nachhaltig. Und der überraschende Besuch ihres früheren engsten Freundes und Kollegen Billy T. schlägt eine Bresche in das Bollwerk, das sie um sich und ihre Frau und Tochter errichtet hat.
Legendäre Ermittler
Auch Billy T., den man aus Anne Holts früheren Romanen in bester Erinnerung hat, hat die letzten Jahre nicht unbeschadet überstanden:
"Hatte er früher ein gelassenes, aber ergebnisreiches Verhältnis zu Regeln und Vorschriften, kam seine Vorgehensweise mit der Zeit zunehmend einem Gesetzesbruch gleich. Was zum Ausstieg aus der Truppe führte. Das Leben war einfach nicht mehr so wie damals, als Hanne Wilhelmsen die Königin des Polizeidistrikts Oslo gewesen war und er ihr Schildknappe.“
Doch nicht nur der Verdacht, Billy T.s Sohn habe sich einer Islamistenzelle angeschlossen, lässt die beiden legendären Ermittler wieder aktiv werden. Anne Holt schildert in gewohnt kundiger Weise die Arbeit der Osloer Polizeidirektion und sorgt mit einem Kunstgriff dafür, dass ihre Kultfigur Wilhelmsen wieder damit verzahnt wird: zusammen mit einem jungen Polizisten Hendrik Holme soll sie einen "kalten Fall" begutachten, das Verschwinden eines jungen Mädchens, das nie aufgeklärt wurde.
Neue Spuren
Minutiös und spannungsreich stellen sich Verbindungen zum Hauptstrang dieses ungemein geschickt aufgebauten Kriminalromans her. Holme, selbst wegen seiner fast autistischen Eigenarten ein Außenseiter unter seinen Kollegen, gelingt es, das Vertrauen eines durch einen gewalttätigen Überfall geistig behinderten Taubenzüchters zu gewinnen, der das verschwundene Mädchen kannte. Er nimmt dessen bruchstückhafte Erinnerungen ernst und stößt auf neue Spuren, die nie verfolgt wurden.
Die muslimischen Norweger, für die Integration eine Selbstverständlichkeit war, sind zunächst im Besonderen Zielscheibe der Attentate. Doch wer hat das größte Interesse daran? Die Autorin beleuchtet mit gut ausgeprägtem Sensorium für politische Machtverhältnisse, wie sich die Stimmung in den Medien und der Öffentlichkeit verändert. Sie zitiert einen pakistanischen Geschichtsprofessor, der mit zehn Jahren nach Norwegen kam und sich damit beschäftigt, wie man Außenseitertum empfindet:
"Dieses Gefühl, diese Erfahrung, niemals ganz dazuzugehören und wirklich norwegisch zu sein, liefert den besten Nährboden für eine Radikalisierung. Das hat der ISAN erkannt und darauf baut er auf."
Rassismus im Alltag
Doch wer ist dieser ISAN, den keiner kennt? Nichts bleibt so, wie es anfangs scheint: Anne Holt legt falsche Spuren, um das gesellschaftliche Klima in ihrem Land, dessen Justizministerin sie zeitweilig war, in den Zeiten extremistischen Terrors mit feinem Gespür bloßzulegen. Die Polizeidirektorin Silje Sörensen, ebenso wie der Taubenfreund Gunnar eine ihrer vielen bestens gezeichneten Figuren, fasst die Stimmung zusammen als "Alltagsrassismus gemischt mit Hysterie,… eine lebensgefährliche Mischung," und das in einem Land, das sich viel auf seine Liberalität zugute hielt.
Während seltsame Bekennervideos auftauchen und die Muslime unter Generalverdacht geraten, fügen sich die Puzzleteile in Hanne Wilhelmsens 9. Fall zu einem anderen Bild zusammen. Billy T. muss herausfinden, was den Sohn, den er kaum kennt, wirklich antreibt, und Kommissarin Hanne Wilhelmsen erfährt, als sie ihre selbst gewählte Isolation verlässt, wie wenig das Internet tauglich ist, die Wahrheit zu erkennen – eine besondere Pointe dieses komplexen und raffiniert aufgebauten Kriminalromans.
(Lore Kleinert)
Anne Holt *1958 in Larvik, norwegische Kriminalautorin und ehemalige Justizministerin Norwegens, lebt in Oslo
Anne Holt "Ein kalter Fall"
übersetzt von Gabriele Haefs
Kriminalroman, Piper Verlag 2017, 432 Seiten, 22 Euro
eBook 18,99 Euro
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"Ein Grab für zwei"
"Schattenkind"