Alina Bronsky
Baba Dunjas letzte Liebe
"Ich bin doch keine 82 mehr", sagt Baba Dunja, wenn ihr irgendetwas beschwerlich wird. Und das ist oft der Fall in Tschernowo, diesem gottverlassenen Dorf, in das dreißig Jahre nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl ein paar alte Leute zurückgekehrt sind, weil sie ohnehin nichts mehr zu verlieren haben. Hier ist ihre Heimat, hier wollen sie sterben. In Ruhe. Die Strahlung kümmert sie nicht.
Fruchtbare Gegend
"Bei uns gibt es keine Zeit. Es gibt keine Fristen und keine Termine. Im Grunde sind unsere täglichen Abläufe eine Art Spiel. Wir stellen nach, was Menschen normalerweise tun."
Kommen dann manchmal Menschen von außen – Tschernowo liegt in der verstrahlten Zone rund um Tschernobyl – dann kommen sie in Schutzanzügen und lassen die Geigerzähler ticken und nehmen Proben vom Obst und Gemüse, von dem die wenigen Einwohner des Dorfes sich ernähren. Das Wasser kommt aus dem Brunnen am Ende der Straße, in den Gärten wachsen reichlich Tomaten, Gurken und Pfirsiche, die Gegend ist fruchtbar. Manchmal gibt es sogar Elektrizität und hin und wieder ein Paket von der Tochter aus Deutschland mit all' den Dingen, die hier niemand braucht.
Zum Sterben bereit
"Als der Reaktor passierte, zählte ich mich zu denjenigen, die glimpflich davonkamen. Meine Kinder waren in Sicherheit, mein Mann würde sowieso nicht mehr lange halten, und mein Fleisch war damals schon zäh. Im Grunde hatte ich nichts zu verlieren und ich war bereit zu sterben."
Käfer und Spinnen vermehren sich ungehindert, denn seit der Reaktorkatastrophe gibt es viel weniger Vögel. Daran kann man sich gewöhnen. Hier muss man niemanden um Erlaubnis fragen, hier kann man friedlich leben. Käme da nicht ein Fremder ins Dorf mit einem kleinen Mädchen an der Hand. Das Leben verändert sich dramatisch – und eines Tages wird über Baba Dunja in der Zeitung stehen:
"Sie ist eine dieser Frauen, auf die man neidisch ist, weil sie lächeln können wie die Kinder. Sie hat ein kleines, runzliges Gesicht und schmale dunkelbraune Augen. Sie ist winzig und kugelrund … eine Symbolfigur. Eine Erfindung der internationalen Presse. Ein moderner Mythos."
Geister der Toten
Alina Bronsky beschreibt ihre schrulligen Alten liebevoll und komisch, niemals als tragische Opfer, sondern als Menschen, die sich ganz bewusst ihr (verstrahltes) Paradies gesucht haben. An diesem abgelegenen Ort ist nichts mehr zu tun, also liest Petrow alle vorhanden Bücher und notfalls auch Gebrauchsanweisungen, Marja futtert von morgens bis abends Tabletten und Süßkram, und Sidorow hütet ein Telefon, das nicht funktioniert – und einmal doch ein Leben rettet. Die Geister der Toten besuchen die Lebenden, die sogar eine Hochzeit feiern.
Ein anrührender und poetischer kleiner Roman, der archaische Bilder entwirft und das fast vergessene Leben in einer Gemeinschaft bewahrt, die mit großer Gelassenheit annimmt, was ihr das Schicksal aufgebürdet hat.
(Christiane Schwalbe)
Alina Bronsky *1978 in Russland, lebt seit Anfang der 90er-Jahre in Deutschland, jetzt in Berlin
Alina Bronsky "Baba Dunjas letzte Liebe"
Kiepenheuer und Witsch 2015, 160 Seiten, 16,00 Euro
AudioCD 19,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Alina Bronsky
"Und du kommst auch drin vor"