Regina Scheer
Machandel
Im Märchen vom Machandelbaum sammelt ein Mädchen die Knochen des von der Stiefmutter getöteten und gekochten Brüderchens ein; und aus dem Wacholderstrauch, unter den sie sie, in ein Seidentuch gewickelt, legt, fliegt ein schöner bunter Vogel hervor– eines der vielen schwarzen Märchen, die von Gewalt und Not erzählen.
Im Sommerhaus
Die junge Sprachforscherin Clara schreibt eine Doktorarbeit darüber, und das Dorf Machandel, wo sie sich mit ihrer Familie 1985 einen Katen zum Sommerhaus herrichtet, wird in Regina Scheers Roman zum Schnittpunkt vieler Geschichten.
"Es war ein seltsames Märchen…Der Tod kommt darin vor, aber auch die Geburt eines Kindes, die Lüge und der Betrug, die Verstellung und die Verwandlung. Die Trauer und die Vergeltung. Grausamkeit und Liebe. Ich wusste ja, dass die Märchen nicht Wirklichkeit sind, aber doch ist irgendwann irgendwie geschehen, was die Märchen erzählen, wenngleich nicht in dieser Art und an diesem Ort."
Geschichten aus Machandel
Mit großer Sensibilität für die Unterströmungen, von denen die Märchen, die alten Namen oder die Spuren in der Natur selbst Zeugnis ablegen, verknüpft Regina Scheer die Geschichte von Claras Familie mit anderen, deren Wege sich in Machandel gekreuzt haben: Natalja aus Smolensk, die mit sechzehn als Zwangsarbeiterin hierher verschleppt wurde und blieb, ihre Freundin Marlene, nach dem Tod der Mutter für sieben jüngere Geschwister verantwortlich und von den Nazis im Euthanasieprogramm ermordet, weil sie drohte, ihren Vergewaltiger anzuzeigen.
Bruchstücke des Lebens
Aus alten Fotoalben und dem wenigen, was die Dorfbewohner preisgeben, setzt Clara einige Bruchstücke dieser Leben zusammen, die sich mit der eigenen Geschichte in einem großen erzählerischen Raum berühren. Claras Vater Hans ist nach dem Todesmarsch aus dem Lager im Herrenhaus von Machandel gesund gepflegt worden, später gehörte er der Nomenklatura der DDR an und verschließt seine Erlebnisse tief in sich. Regina Scheer lässt ihn zur Sprache kommen, legt bloß, welche Not sich hinter seiner Versteinerung angestaut hat, und was ihn in seinem Land DDR am Sprechen hinderte.
"Das ist alles so verschlungen, so schwierig, und es ist lange her und doch nicht vorbei. Verschlungen. Doppeldeutiges Wort. Es ist alles so miteinander verwoben, aber es ist auch verschlungen von der Zeit."
Schweigen der Väter
In der Literatur kann die verschlungene Zeit in den Geschichten wieder auferstehen und wird begreifbar; Regina Scheer schildert ebenso, was das Schweigen der Väter bei seiner Frau und den Kindern angerichtet hat. Der Sohn hat die DDR längst verlassen, die Tochter Clara sucht die Motive der Märchen in der Realität der Jahre des Umbruchs, der Befreiung von den eisernen Bändern, die sich um die Herzen gelegt hatten.
"Wie im Märchen vom eisernen Heinrich sprangen Verkrustungen vom Leib der Gesellschaft ab; sie atmete anders, Starres löste sich, alles floss…Während ich mich an die Tage im Januar und Februar 1988 erinnere, mehr als zwei Jahrzehnte danach, spüre ich, dass meine Erinnerungsbilder auch Teile eines Ganzen sind, die man bewahren, aneinanderreihen muss, auch wenn die Knöchelchen abgenagt und einige für immer verloren scheinen."
Ein Grab für alle
Als sie vier Jahre nach dem Ende der DDR wieder im Dorf ist und inzwischen die Erinnerungen des Vaters an den Todesmarsch kennt, muss sie erkennen, dass die Unterschiede, die man benennen sollte, verwischt sind, die Gemeinsamkeit aus der Zeit vor der friedlichen Revolution verbraucht ist. Häftlinge, SS-Männer und Soldaten liegen alle in einem Grab - "Den Opfern von Krieg und Gewalt". Doch in den vielschichtigen Erzählungen, die sich im Roman zur großen Geschichte verzahnen, kommt es auf kleinste Unterschiede und Schattierungen an.
Traum von Heimat
Nichts wird verschwiegen, und dennoch wahrt Regina Scheer Respekt vor den unterschiedlichen Erfahrungen und Sichtweisen und gibt ihnen mit schöner, poetischer Sprache den Raum, den sie verdienen. Der Historiker Herbert, der mit Claras Bruder in der Kadettenanstalt war und die Suche nach ihm auch im Exil nie aufgegeben hatte, hat in Machandel Zusammengehörigkeit und Vertrauen erlebt und kehrt wie Clara dorthin zurück - nicht bereit, sich das Leben durch das Gefühl, ausgeliefert gewesen zu sein, vergiften zu lassen. Ihre Perspektive rundet diesen schönen Roman über den Traum von Heimat ab:
"Als ich verstanden hatte, was in diesem Katen, was in diesem Dorf geschehen ist, dass die Lüge, der Verrat, die Hoffnungslosigkeit, der wir doch entfliehen wollten, hier in den Mauern steckten wie anderswo, als der Traum der Tschechowschen Sommer vergangen war, blieben doch der Katen und unsere Sorge für ihn wie für ein lebendes Wesen."
(Lore Kleinert)
Regina Scheer *1950 in Berlin, Journalistin und Schriftstellerin
Regina Scheer "Machandel"
Roman, Knaus Verlag 2014, 480 Seiten, 22,99 Euro
eBook 18,99 Euro
ab 12.Dezember 2016 als Penguin Taschenbuch 10 Euro