Wytske Versteeg
Die goldene Stunde
„Das hier ist das Gegenteil von Zuhause. Das Land hier ist in sich gekehrt, der Boden hart und ausgezehrt. Namenlose Straßen, unnummerierte Häuser.“
Verlassene Frau
Die Niederländerin Mari ist in das Bergdorf Sarakina im Nahen Osten gereist, um sich wiederzufinden. Sie war mal Archäologin, will Felsmalereien kartieren, ohne die Sprache der Bewohner zu sprechen, eine verlassene Frau. Der junge Kriegsflüchtling Ahmad war in den Niederlanden zunächst ihr Schützling, und nachdem sie kurze Zeit ein Paar waren, verschwand er. Ihre Stimmen lässt Wytske Versteeg in ihrem Roman auf schmerzhafte Weise zur Sprache kommen. Was aus Ahmad wurde, erfahren wir nicht, wohl aber, woran er verzweifelte.
„Mein Körper scheidet das Neue aus, als wäre es Gift, sehnt sich nach dem, was er kennt. Ich möchte weiterkommen, ohne noch mehr zu verlieren, doch mein Körper weiß es besser: Es ist unmöglich, alles zu behalten. Jedes neue Wort, das ich hier lerne, wird eines aus der Heimat verdrängen.“
Traumatisiert vom Krieg, von der Flucht, ist er kaum in der Lage, die Zuneigung der älteren Frau richtig zu deuten, die ihn in einem Flüchtlingsprojekt, dem „Paradies“ in einer Schrebergartensiedlung, kennenlernte. Nachdem das „Paradies“ ausbrannte und er verschwand, kreisen Maris Gedanken um ihre Irrtümer, und sie sucht die Fremde, „um mich abzuhärten, um Buße zu tun, einen anderen Rhythmus für mein Herz zu finden“ - „Manchmal war ich dir eine Frau, öfter eine Mutter und am Ende nur noch eine Last, die dir nichts mehr bedeutete, die dich bloß noch genervt hat.“
Fremd geblieben
Im fernen Dorf Sarakina in einem Land, aus dem noch immer Menschen flüchten, schließt sie sich an einen Mann an, Tarik, der sich dort als Fremder verkroch, sich mit nützlichen Arbeiten und Autofahrten über Wasser hält, und fremd geblieben ist. Im zweiten Teil des Buches erfahren wir, dass er mit fünfzehn zur Armee ging, ein junger Mann, der die Erinnerungen an diese Jahre tief vergrub, denn er war im Gefangenenlager 33 zum Mörder und Folterer ausgebildet worden.
„Es gab keine Weggabelung, jedenfalls keine, die er hätte erkennen können. Er hatte der Uniform vertraut, die ihm eine noch nie dagewesene Bedeutung verliehen hatte. Er hatte den Männern in der Hierarchie über ihm vertraut, die ihm erst gezeigt hatten, wie schwach er war, um ihn dann stark zu machen.“
Mari gibt ihm die Aufzeichnungen des damaligen Oppositionellen Ahmad, der aus dem gleichen Ort wie er kam, als Flüchtling. Ihre Erinnerungen und Geschichten berühren sich, Ahmad legt seine Wunden bloß, die niemals heilen, und Tarik, der sich in seiner Schuld eingemauert hat, beginnt sich zu öffnen. Langsam und schmerzlich kreist er um die Erkenntnis, wieviel er verloren hat. Gerade seiner Figur widmet die Autorin besondere Aufmerksamkeit, denn er begreift, dass er Opfer und Täter zugleich ist. Und auch das wohlmeinende Helfertum der niederländischen Frau spiegelt sich in seinem Blick als hilflos und anmaßend.
„Maris Sanftheit macht ihn nervös. All ihre Empörung, ihre Ideale und die Illusionen darüber, wie die Welt sein sollte: Sie gehört nicht hierher, auch wenn sie das glaubt. Leute wie sie bleiben nie lange, kommen einem nie wirklich nah, sie ist nur kurz hier, um dann wieder zu gehen, sie hat nichts mit dem Dorf zu tun.“
Ohne Rückkehr
Während sich die Frau immer weiter von ihrer vermeintlichen Liebe entfernt, nicht einmal mehr an Ahmads Aufzeichnungen interessiert ist und schließlich bereit zur Rückkehr in ihr Land, lässt sich Tarik auf das Echo des verschwundenen jungen Mannes ein. Was innere Leere bedeutet, ist dem Mann, der vor seiner Vergangenheit als Folterknecht floh, vertraut, und er fühlt sich in Ahmads Zorn und seine Hellsicht ein. Denn Rückkehr ist für beide nicht möglich.
„Du wolltest helfen, du schon. Aber vor allem wolltest du unbedingt diejenige sein, die hilft, die einen Schritt weitergeht als alle anderen; da muss eine große innere Leere gewesen sein, die du versucht hast zu füllen.“
Wytske Versteeg legt die Beschädigungen in den tieferen Schichten ihrer Personen wie in einer archäologischen Bewegung bloß, in klarer Sprache, geduldig und behutsam, und im Wissen, die Wahrheit über Verletzungen, Illusionen und Schuldgefühle nie ganz und gar „ausgraben“ zu können. Kein Roman über Krieg, Asylbewerber oder Flüchtlingselend, sondern ein außergewöhnliches Labyrinth verlorener Hoffnungen und Möglichkeiten des Überlebens in finsteren Zeiten.
(Lore Kleinert)
Wytske Versteeg, *1983, niederländische Politikwissenschaftlerin, Essayistin und Romanautorin mit mehreren Literaturpreisen, sie lebt in Delft
Wytske Versteeg „Die goldene Stunde“
aus dem Niederländischen von Christiane Burkhardt
Roman, Verlag Klaus Wagenbach, 235 Seiten, 26 Euro