Jo Lendle
Eine Art Familie
„Man hat sich das Zeitalter nicht ausgesucht, in das man geriet. Durch das man irrte. In dem man verdarb.“
Briefe an sich selbst
Alma Grau, das Waisenmädchen, das bei ihrem sehr entfernten Verwandten Ludwig Lendle landete, hätte gern zu einer anderen Zeit gelebt, doch „unauflösbar eingewickelt in ihr Leben, ihre Epoche“ lernt sie, aus ihrem Leben das zu machen, was ihr möglich ist. Aus den Briefen, die sie an sich selbst schreibt, kann man schließen, wie sehr sie sich selbst unerklärlich blieb – und doch nicht unglücklich war. Zusammen mit der Haushälterin Paula Gerner, die zeitlebens ein ‚Fräulein‘ war, und mit dem als Pflegevater deklarierten Pharmakologen Ludwig Lendle wird sie zum Teil einer ‚Art Familie‘, zusammengehalten von unverbrüchlicher Verbundenheit, von Gewohnheit, Zuneigung, Vertrauen.
Jo Lendle, Verleger des Hanser Verlags und Autor, fand die Tagebücher und Aufzeichnungen seine Großonkels Ludwig Lendle (1899-1969) auf dem elterlichen Dachboden und entschloss sich, sie nicht zu vernichten. Lud, wie er genannt wurde, wäre ‚ungeöffnetes Verbrennen‘ lieber gewesen, doch dann wäre dieser einzigartige Familienroman, der zugleich zur Erkundung des brutalen 20. Jahrhunderts einlädt, nicht entstanden.
Besonderheiten des Lebens
Stendhal stellt das Motto voran: „Mehr Details, mehr Details, Eigenart und Wahrheit liegen nur im Detail“, und Lendle bietet eine Fülle davon, ohne sich darin zu verzetteln oder zu verirren. In vielen einzelnen Kapiteln verdichten sich die Besonderheiten des Lebens von Alma und Lud und einigen, die ihnen verbunden waren, zu Kabinettstückchen mit unerwarteten Pointen, detailreichen Schilderungen der Zeit auf engem Raum, die zugleich Einblicke in die Hoffnungen und Illusionen, die Irrtümer und Selbsttäuschungen deutscher Mitlaufender der Geschichte bieten.
„Die Empfindungen brachen mit einer solchen Gewalt über die Menschen herein, dass es einem die Beine wegschlug. Die Totalität der Eindrücke. Ludwig brütete ganze Abende über der Frage, ob frühere Generationen das alles auch schon so erlebt hatten, den Zweifel und das Ungenügen, und es einfach nicht aufgeschrieben hatten. Ein Mangel der Notation? Hatte damals Gott die Leere zu füllen vermocht, und jetzt reichte einfach seine Kraft nicht mehr?“
Während Alma sich mit Broterwerb und der Erkundung ihrer Weiblichkeit beschäftigt, immer auch bezogen auf Ludwig, macht dieser Karriere als Professor. Nachdem er im ersten Weltkrieg als Soldat Schreckliches erlebte und seinen engen Freund verlor, widmet er sein Leben der Forschung.
Vor allem der Schlaf, die verborgene Seite des Lebens, fasziniert ihn, doch das Naziregime zieht ihn, den entschiedenen Gegner und heimlichen Homosexuellen, von der Narkose- in die Kampfmittelforschung hinein, obwohl er sich zunächst der Nazibeflaggung seines Instituts widersetzte. Am Russlandfeldzug nimmt er als beratender Pharmakologe teil.
Flucht in die Theorie
Der Roman schildert, wie er sich lebenslang mit seiner besonderen Art der Verstrickung auseinandersetzt, hochinteressant auch, wie er es dann, nach dem Krieg in der neu entstehenden DDR, nicht aushält und schließlich in Göttingen als Professor große Achtung erwirbt. Ein feinfühliger Mann, der sich an den Grenzen, die ihm gesetzt schienen, wund rieb:
„Die Schuld, die ich auf mich geladen habe, das wird mir in den letzten Monaten immer deutlicher, betrifft Hermann Freund, meinen Vorgänger in Münster. Ich hätte ihn nicht retten können. Aber ich habe nicht versucht, ihn zu retten. Im Abgrund zwischen diesen Sätzen versinkt mein Leben.“
Kunstvoll verwebt der Autor Almas und Ludwigs Wege des Tuns und des Denkens, ohne ihnen jedoch allzu nahe zu treten: Er belässt ihnen ihre Räume und Eigenarten. Vor allem Almas Perspektive beleuchtet den Alltag und spiegelt Ludwigs Hang zur Selbstquälerei und seine Flucht in theoretische Höhenflüge. Im gemeinsamen Haushalt beziehen sie sich doch immer wieder aufeinander, mit humor- und liebevollem Blick auch auf das, was sie trennt, etwa wenn Alma schon fast am Ende des gemeinsamen Lebens konstatiert:
„Drei eigenartige Menschen, ein seltsam versprengter Haufen, von Zufällen zusammengewürfelt, ohne rechte Verbindung und ohne Zukunft, drei Lebensläufe, von denen man nur eines lernen kann: Wie man ausstirbt.“ „Na,na“, sagte die Gerner. „Wir sind eine Art Familie“, sagte Lud. „Das hättest du wohl gern. Eine Familie ist das, woher du kommst.“
Wie stark das in diesem 20. Jahrhundert nachwirkte, woher man kommt, macht Lendles Roman auf unaufdringliche Weise nachvollziehbar, umso mehr als es poetisch dicht und leise erzählt wird und den Schmerz über innere und äußere Begrenzungen nicht ausspart. Zugleich setzt es einer unkonventionellen, liebevollen Lebensgemeinschaft ein literarisches Denkmal.
(Lore Kleinert)
Jo Lendle, *1968 in Osnabrück, Schriftsteller, seit 2013 Verleger des Hanser Verlags
Jo Lendle „Eine Art Familie“
Roman, Penguin Verlag München 2021, 368 Seiten, 22 Euro
eBook 14,99 Euro
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"Was wir Liebe nennen"
"Alles Land"