Ryoko Sekiguchi
Nagori
Die Sehnsucht nach der von uns gegangenen Jahreszeit
"Jahreszeiten sind Emotionen; deshalb 'glauben' wir an die Symbolik, die sie in sich tragen, und deshalb begleiten die Nahrungsmittel sie natürlicherweise."
Kulinarische Kunst Japans
Zwar kommen die wechselnden Jahreszeiten jedes Jahr wieder, doch sind sie jedes Mal "gleich und anders, identisch und einzigartig", und so bieten sie uns Menschen die Chance, den Ablauf der Zeit zu durchbrechen, die Saison zu verschieben, und von unserer eigenen Zeitlichkeit zu befreien. Zumindest für die Dauer einer Mahlzeit, einer intensiven Begegnung mit einem Duft, einem Geschmack, oder auch einer Erinnerung.
Ryoko Sekiguchis poetischer Essay lädt dazu ein, die kulinarische Kunst Japans zu entdecken, indem wir unseren Sinn für die Jahreszeiten schärfen und ihre Essenz neu entdecken. Die zur Zeit dominierende Mode, sich 'saisonal' zu ernähren, stellt sie nicht in Frage, bietet aber einen differenzierten Zugang an, der auf der Kenntnis beruht, dass man in Japan vierundzwanzig oder sogar zweiundsiebzig Jahreszeiten kennt und in der Literatur beschreibt:
"Ab wann sind Wurzelknollen und Zitrusfrüchte, die sich über Monate aufbewahren lassen, nicht mehr ,saisonal'? Zu welchem Zeitpunkt ist eine Fischart ‚saisonal‘, und wie sollte man das definieren? Der Begriff der ‚Saison‘ könnte durchaus komplexer sein, als es auf den ersten Blick erscheinen mag."
Flüchtige Spuren
Drei Begriffe sind es, mit denen in Japan die saisonalen Eigenschaften eines Lebensmittels beschrieben werden: hashiri, sakari und nagorifür die Früh-, Haupt- und Nachsaison. Eine Nagori-Frucht "verabschiedet sich von uns bis zum nächsten Jahr, und wehmütig sehnst du dich schon nach ihr zurück", denn im nagori vermischen sich Bindung, Sehnsucht und Zeitlichkeit. Sekiguchi geht darauf ein, wie die Literatur und das geschriebene Wort bei den Japanern das Bewusstsein für Jahreszeiten und die mit ihnen verbundene Vorstellungswelt entwickelten. In den Haikus zum Beispiel etablierten sich 'Jahreszeitenwörter' seit dem 7. Jahrhundert, um die Sensibilität für die kleinsten Schwankungen der Umwelt zu schärfen, denn alles hinterlässt einen Abdruck, und das Wort nagori selbst verweist auf die flüchtige Spur der Wellen, nachdem sie sich bereits vom Strand zurückgezogen haben.
Nach Fukushima
Zugleich aber lädt uns die Konservierung von Lebensmitteln dazu ein,
"das festgefahrene Bild zu überdenken, das wir uns oft von den Jahreszeiten machen, wo doch nichts flexibler und wandelbarer ist als sie."
Mit großer Finesse bietet die Autorin, die zugleich Dichterin und Übersetzerin ist, uns an, das Thema der zeitlichen Dauer mit dem der kulinarischen Sorgfalt und sogar der Politik zu verbinden, garniert mit Anekdoten, Erinnerungen und Reflektionen. Nach dem Atomunfall von Fukushima etwa ist politisches Handeln und permanente Reflexion im Alltag gefragt, denn mit der Radioaktivität erscheint eine "dritte Zeitlichkeit" von unerträglicher Länge, die sich über unsere lineare Lebenszeit ebenso wie über die zyklische Wiederkehr von Früchten oder Kräutern legt, als Kontamination. Dennoch: die Jahreszeiten sind Brücken, "die uns mit den anderen Lebewesen verbinden", und ebenso ermöglicht die Begegnung verschiedener Zutaten Entdeckungsreisen in bisher unbekannte Geschmackswelten, sei es die der knackigen Frische oder die konservierter und haltbar gemachter Essenz:
"Diese Orangenblüten, Tomaten und Salbeiblätter, wir werden sie riechen und essen. Sie werden zu einem Teil von uns selbst…Wir werden wehmütig sein, wenn sie mit der Jahreszeit verschwinden, aber wir finden sie jedes Jahr aufs Neue wieder.
Hundert Zutaten
Von Japan über Frankreich gelangen wir nach Rom, in die Villa Medici, wo Ryoko Sekiguchi 2014 ein Abschiedsessen mit hundert Zutaten für all ihre Stipendiaten-Freunde ausgerichtet hat. Die Menüfolge zeugt von den Höhepunkten ihres Aufenthalts, und in ihrer Einladung schrieb sie: "Wir gehen ein wenig verändert und lebhafter." Nach dem Lesen ihrer kurzen Ästhetik über den Nachhall von Geschmäckern und Aromen in unseren Körpern – geht es uns genauso!
(Lore Kleinert)
Ryoko Sekiguchi, *1970 in Tokio, lebt seit 1997 als Lyrikerin, Autorin und Übersetzerin in Paris
Ryoko Sekiguchi "Nagori"
Die Sehnsucht nach der von uns gegangenen Jahreszeit
aus dem Französischen von Karin Uttendörfer
Matthes & Seitz Berlin 2020, 120 Seiten, 18 Euro
eBook 12,99 Euro