Ulrich Schacht
Grimsey
Eine Novelle
Grímsey ist eine Insel - 40 km nördlich der Nordküste Islands, sie liegt direkt auf dem Polarkreis – baumlos, klein, voller Vögel. Unwirtlich und geheimnisvoll, Sehnsuchtsort für einen "Inselsammler", der sie erkundet.
Magische Beobachtungen
Er tut es einen Tag lang mit der Kamera und mit jener magischen Beobachtungsgabe, die notwendig ist, um Geheimnisse zu entdecken, die karge Natur am fremden Ort, die wenigen Objekte, die auffallen:
"Wie im Rausch bewegte er die Kamera nach allen Seiten, zielte die wenigen, aber zeichenhaft im Raum stehenden Objekte an, kombinierte sie, wechselte die Objektive, Blickwinkel und Perspektiven …"
In der Nähe der Tod
Ein Leuchtturm gehört zu diesen Objekten, ein Supermarkt, eine Kirche, ein Funkmast, ein mintgrünes Haus und ein weißgespritzter Esso-Tank im Gras,
"nicht weit von einem abgewrackten Boot und einem Wäschetrockner, der sich wie eine riesige Spinne über den Rasen erhob, an seinen Fuß war ein grellroter Plastikeimer mit gelbem Bügel gerollt …"
Weiße Flecken, vermutete Papierfetzen, entpuppen sich als tote Möwen, die im dichten Gras liegen. "Sie leuchteten aus der grünen Fläche heraus." Der Tod ist immer nahe – auch in der Kirche, wo ihn ein merkwürdiges Sirren und Summen anlockt und er drinnen Unmengen von Fliegen entdeckt, die tot auf dem Boden liegen. Schlimmer ist der Ausflug zu den Walfängern, die nach wie vor ihrem mörderischen Handwerk nachgehen, unter den Augen von Alten, Frauen und Kindern, "sie verfolgten den Totentanz aus nächster Nähe." Fotografieren ist hier nicht ungefährlich. Diese gnadenlosen Szenen sind nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Früher ernährten sich die Menschen vom Speck und Fleisch der Wale, heute gehen sie in den Supermarkt. Dennoch ...
Verlorene Träume
Der die kleine Insel erkundet, hat einen Begleiter, einen Jungen, der ihm immer einen Schritt voraus ist -
"der Junge bewegte sich in einer Zeit, die nicht die seine war. In Wahrheit lief der Junge auf den Mann zu, der hinter dem Jungen herlief. Ich bin der Mann, dachte er, von dem der Junge nichts weiß; aber ich weiß alles von ihm."
Er erinnert ihn an Kindheitstage an der Ostsee, an heimliche Aufenthalte im Nachtwachenzimmer des Krankenhauses, an die Großmutter, die so gern auf einer Hallig leben wollte, an Studententage, an seine Verhaftung wegen staatsfeindlicher Hetze, freigekauft von der Bundesrepublik. Was hier geschieht, das geschieht in Gedanken, denn auf der Insel passiert fast nichts, sie ist Projektionsfläche für Erinnerungen an Vergangenes, das sich beim Gang über Gras, Geröll und Steine ins Bewusstsein schleicht, vergessene Bilder und verlorene Träume von früher im Gepäck.
Poetische Kraft
Es ist die ungemein dichte Sprache, die an dieser Novelle fasziniert, die Kunst, Wörter sorgfältig und genau zu setzen, assoziativ und präzise Bilder im Kopf zu schaffen, melancholisch, ernst, geheimnisvoll. Ein Buch, das wenig über eine karge, kleine Insel erzählt und doch so viel mehr über den Autor. Aber man braucht Muße, um es zu lesen, nur dann entfaltet die Novelle ihre poetische Kraft.
(Christiane Schwalbe)
Ulrich Schacht *1951 in Stollberg/Erzgebirge, deutscher Journalist und Autor von Lyrik, Prosa und Essays, lebt in Schweden
Ulrich Schacht "Grimsey"
Eine Novelle
Aufbau-Verlag 2015, 189 Seiten, 19,95 Euro
eBook 15,99 Euro
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