Katja Oskamp
Marzahn, mon amour
Geschichten einer Fußpflegerin
Der Berliner Stadtteil Marzahn ist nicht unbedingt das, was man einen Sehnsuchtsort nennt. Aber genau dort, in der ehemals größten "Platte" der DDR, leben die Menschen, deren Geschichten Katja Oskamp erzählt. Es sind Geschichten aus dem Leben, authentisch, komisch, anrührend und traurig.
Platte Betonwüste
"Die Vorurteile gegen die Plattenbausiedlung im Berliner Osten halten sich hartnäckig. Marzahn, so heißt es, sei eine Betonwüste. In Wahrheit ist Marzahn überaus grün, es gibt breite Straßen, genügend Parkplätze, intakte Gehwege und an Übergängen abgesenkte Bordsteinkanten. Alles, was Räder hat, kommt bestens voran und ans Ziel."
Auch Frau Blumeier, die im "schnittigen Elektromodell" direkt bis zum Fußpflegestuhl fährt und Behindertenwitze macht. Alle müssen sich auf Katja Oskamps "pinkfarbenen Thron in weißem Ambiente" setzen, den sie mit leisem Surren hoch und runter fährt, je nach Größe ihrer Kunden. .
Knallpink und Glitzer
Die Autorin machte aus Frust über ein erfolgloses schriftstellerisches Projekt einen Kurs in Fußpflege – und praktiziert diesen Beruf auch. Zweimal in der Woche arbeitet sie in einem Studio in Marzahn, zusammen mit Tiffy, ihrer Chefin, und Flocke, ihrer Kollegin für die Maniküre. Sie schneidet Zehennägel, hobelt Hornhaut, legt eingewachsene Nägel frei, massiert alte Füße, solche in den besten Jahren, alte, sehr alte und ganz junge. Denn ihre Schriftstellerkolleginnen haben heranwachsende Töchter, die mit ihren Füßen hadern – zu dick, zu groß, zu lang:
"Isabell trägt inzwischen nur noch geschlossene, klobige Männerschuhe, auch im Sommer, um ihre Füße darin zu verstecken. Sie meint, ihre Zehennägel seien verdickt, was nicht stimmt …"
Mizzi, "die kleine Schwester einer pubertierenden Schriftstellertochter" ist fünf und kriegt "Knallpink auf die kleinen Nägel" gepinselt, bei Natalie, die ihre Füße "käsig" findet ist es Knallrot … und "wir hauen noch eine Schicht Glitzer drüber."
Von Bypässen und Liebschaften
"In Marzahn, denken viele, tummeln sich lauter ehemalige DDR-Bonzen und SED-Funktionäre. Das trifft nicht zu, wofür ich allerspätestens seit ich hier arbeite, meine Hand ins Feuer lege"
sagt Katja Oskamp - mit einer einzigen Ausnahme: Herr Pietsch war waschechter Parteifunktionär, politisch-weltanschaulich auf der richtigen Seite, mit "an langen Beinen hängenden, langen Füßen", die an Hasenläufe erinnern. Er hat inzwischen fünf Bypässe und ziemlich viele Liebschaften – bei der Pediküre erzählen die Menschen alles. Es gibt Stammkunden - mehr Frauen als Männer - und Neukunden, die sich im Vorübergehen ins Fußpflegestudio verirren. Sie alle treffen auf offene Arme und sanft pflegende Hände.
Neunzehntausend Zehen
Katja Oskamp erzählt ihre Geschichten liebevoll, mit Herzenswärme und Offenheit, sie kann zuhören und mitfühlen und den Menschen, die ein oft anstrengendes Leben hinter sich haben und ihr vertrauensvoll die mehr oder weniger intakten Füße entgegenstrecken, ein kleines Stück Wohlbefinden mit auf den Weg geben. Und zwischen den "dreitausendachthundert Füßen und neunzehntausend Zehen", die sie seit 2015 in ihren Händen gehalten und gepflegt hat, zwischen Berliner Plattenbau, Hammerzehen und Vergesslichkeit, Rollator und Krücken, Ost-West-Vorurteilen und Wende erzählt Katja Oskamp auch ein Stück Geschichte aus dem Osten Berlins: Marzahn, mon amour.
(Christiane Schwalbe)
Katja Oskamp, *1970 in Leipzig, in Berlin aufgewachsen, Studium der Theaterwissenschaft, arbeitete als Dramaturgin am Volkstheater Rostock, Schriftstellerin, lebt in Berlin und arbeitet auch als Fußpflegerin
Katja Oskamp "Marzahn, mon amour – Geschichten einer Fußpflegerin"
Hanser Berlin 2019, 144 Seiten, 16 Euro
eBook 11,99 Euro