Meredith May
Der Honigbus
"Ich fühlte mich gefangen. Granny, Mom und Dad führten einen Krieg, der größer und stärker war als ich. Meine Familie war das Gegenteil von einem Bienenvolk. Statt füreinander zu arbeiten, verschworen sie sich, um sich gegenseitig das Leben zu vergällen."
Rückzug aus dem Leben
Meredith‘ Eltern trennen sich als sie fünf Jahre alt ist. Sie zieht mit der Mutter und dem kleinen Bruder zu den Großeltern nach Kalifornien. Dort legt sich die Mutter ins Bett und steht kaum noch auf, die Kinder bleiben sich selbst bzw. der rauen Fürsorge der Großmutter überlassen.
"Ich hörte, wie sie sich im Bett bewegte, sah es aber nicht. 'Nicht jetzt Meredith.' … Ich wusste, dass ich entlassen war, aber meine Füße hatten Wurzeln auf der Schwelle geschlagen. Sie atmete aus, schob mit dem Arm die Decke beiseite und setzte sich auf. Sie kam zu mir, ein sich bewegender Schatten im Rauchdunst. Ich hob erwartungsvoll die Arme. Sie schloss die Tür."
Kälte und Schweigen
Immer wieder kommt es zu Konfliktsituationen mit der Mutter, die sich vom Leben ungerecht behandelt und von ihren zwei Kindern nur gestört fühlt. Die Großmutter unterstützt die Tochter in diesen Momenten immer und stellt deren Wohl vor das Wohl der Enkel. Als Meredith von einem einwöchigen Besuch vom Vater zurückkommt, wird sie von den beiden Frauen regelrecht verhört. Irgendwann nimmt die Mutter sie plötzlich mit zu ihrem richtigen Großvater, der in einem prächtigen Haus lebt und Tochter und Enkelin kühl, aber höflich fast wie Fremde empfängt. Es scheint ein dunkles Familiengeheimnis zu geben, das mit all' diesen Reaktionen der Erwachsenen zusammenhängt.
Aber es gibt noch einen Stiefgroßvater, der Meredith zu seinen Bienen mitnimmt, und plötzlich erschließt sich ihr eine neue Welt, aber auch eine Rückzugsmöglichkeit. So oft sie kann, arbeitet sie mit dem geliebten Stiefgroßvater in seinem Honigbus, fährt mit ihm zu den Bienenstöcken und wird schon als kleines Mädchen eine Expertin für das Leben der Bienenvölker.
Selbstfindung durch Imkern
In ihrem autobiografischen Buch beschreibt May, wie sie von den Bienen des Großvaters lernt, was Zusammenleben, Solidarität und Liebe bedeuten. Es ist eine berührende Lebensgeschichte, die zugleich auf die Erwachsenen zornig macht: Gefangen in ihrem eigenen Leid, übersehen sie die Bedürfnisse eines kleinen Mädchens, das sich immer wieder fragt, ob sie vielleicht selbst schuld daran ist, dass die Mutter sie nicht liebt. Ihr muss sie die Bestätigung liefern, die sie dringend selbst braucht. Zum Glück gibt es den Stiefgroßvater, bei dem Meredith Liebe und Geborgenheit findet, und der durch seine Zuneigung und Fürsorge dieses starke Mädchen rettet. Man spürt in jeder Zeile die Begeisterung der Autorin für die Bienenzucht – sie ist selbst Imkerin – und man könnte am Ende fast selbst losziehen und mit der Imkerei beginnen. Allerdings gerät dadurch die berührende Lebensgeschichte von Meredith zu sehr in den Hintergrund, das Sachbuch über Bienen überlagert die sehr persönlichen Erinnerungen an die Kindheit.
(Iris Knappe)
Ein Buch für alle Altersstufen ab 14 Jahren.
Meredith May, *1970, ist Imkerin in fünfter Generation, Journalistin und Autorin. war nominiert für den Pulitzer Preis, sie lebt in der San Francisco, "Der Honigbus" wurde in elf Sprachen übersetzt.
Meredith May "Der Honigbus"
übersetztt aus dem Amerikanischen von Anette Gruber
S. Fischer Verlag 2019, 320 Seiten, 22 Euro
eBook 6,99 Euro