Mick Herron
Real Tigers
Ein Fall für Jackson Lamb
"Wie die meisten Varianten des Verderbens begann auch diese mit Männern in Anzügen."
Gefangen im Telefonbuch
Ein toller erster Satz eines weiteren, dritten Bandes über die Abenteuer der auf's Abstellgleis des britischen Geheimdienstes MI5 geschobenen 'Slow Horses', Agenten, die ihre Fehler im Slough House abbüßen – bis wieder etwas passiert und die traurige Routine durchbricht.
"Kein Mensch verließ Slough House am Ende eines Arbeitstages und fühlte sich, als hätte er zur Sicherheit der Nation beigetragen. Man verließ es, als wäre das eigene Gehirn durch einen Entsafter gepresst worden. Louisa träumte manchmal, in einem Telefonbuch gefangen zu sein."
Intriganter Innenminister
Diese Agonie hört rasch auf, als Catherine Standish, die rechte Hand des Chefs Jackson Lamb, von einem ehemaligen Soldaten entführt und als Geisel ins Spiel gebracht wird, um an geheime Informationen des MI5 zu kommen. Die 'Grauen Bücher' nämlich, Aufzeichnungen, die der Service über Verschwörungstheorien führt und "die reinste Fundgrube für Paranoiker", sind das Ziel einer Privatarmee, die die Gurkentruppe der 'Slow Horses' auf höchst gefährliches Gelände zieht. Doch die eigentliche Bedrohung lauert im Apparat selbst: Im Hintergrund geht es um die Intrigen des Innenministers Peter Judd, unmissverständlich geformt nach dem Bilde Boris Johnsons, der die Geheimdienstchefin Tierney entmachten und das Slough House schließen will. Er strebt nach dem höchsten Staatsamt und ist ein skrupelloser Intrigant:
"Es gab immer Ärger, und jedes Mal stieg er als liebenswerter Schuft aus dem daraus resultierenden Miasma empor – liebenswert jedenfalls für jenen erfreulich großen Teil der Bevölkerung, für die er immer ein Spaßvogel sein würde. Er brachte ein bisschen Fröhlichkeit in die Politik, was konnte das schon schaden? Diejenigen, die ihn hassten, würden ihre Meinung nie ändern, und da er eher in der Position war, ihnen zu schaden als andersherum, bescherten sie ihm keine schlaflosen Nächte."
Bösartige Manipulationen
Und er setzt alles daran, zu schaden; dass das unausgesprochene Vorbild in der Wirklichkeit sein Ziel längst erreicht hat, vergisst man keinen Augenblick lang. Herron legt die Mechanismen der britischen Klassengesellschaft ganz beiläufig bloß, mit leichter Hand und bösem Witz. Die Rivalität zwischen der Geheimdienstchefin Tierney und ihrer Stellvertreterin 'Lady Di' Diana Taverner sorgt für brillant bösartige Manipulationen, denen ausgerechnet Jackson Lamb, der fette Zyniker an der Spitze seiner höchst fehlbaren Agenten ausgesetzt ist – und seine tief verborgenen, aber höchst überraschenden Fähigkeiten mobilisieren muss:
"Über Churchill heißt es, er habe sich für ein Nickerchen mit einer Teetasse in der Hand in einen Sessel gesetzt, und wenn die Tasse runterfiel, wurde er vom Geräusch geweckt…Bei Jackson Lamb war es ähnlich, mit dem Unterschied, dass er ein Schnapsglas statt einer Teetasse benutzte und nicht aufwachte, wenn es herunterfiel."
Tiefschwarzer Humor
Doch wenn er dann aufwacht, sorgt er für erstaunliche Überraschungen, und ein ebenso vergnügliches wie intelligentes Leseerlebnis ist garantiert. Mick Herrons Roman entfaltet einen vielschichtigen Plot mit vielen geschickt eingefädelten und unerwarteten Wendungen, in fein geschliffener Sprache mit geschliffenen Dialogen. Vor allem haben alle Mitspieler glänzende Auftritte, die sie knapp und meisterhaft charakterisieren und zugleich die Handlung spannungsreich vorantreiben: Marcus ist spielsüchtig, River Cartwright neigt zu unkontrolliertem Aktionismus, Shirley zu Suchtexzessen und Roddy Ho leidet unter erheblichem Mangel an sozialem Einfühlungsvermögen. Die reichlich eingesetzte kämpferische Gewalt ist hier dennoch nie Selbstzweck, sondern Mick Herrons Kriminalroman hat, und das stellt ihn an die Seite John Le Carrés, eine klare Haltung und einen unbestechlichen Blick auf sein Land, unterlegt mit tiefschwarzem Humor.
"Wenn seine Partei für etwas stand, dann für die Verteidigung des Rechts des Stärkeren, sich zu entfalten, was bedeutete, die Schwachen daran zu hindern, unangemessen viel Platz für sich zu beanspruchen."
(Lore Kleinert)
Mick Herron, *1963 in Newcastle-upon-Tyne, englischer Kriminalautor mit zahlreichen Auszeichnungen für diese Serie, lebt in Oxford
Mick Herron "Real Tigers"
Ein Fall für Jackson Lamb
aus dem Englischen von Stefanie Schäfer
Kriminalroman, Diogenes Verlag 2020, 480 Seiten, 18 Euro
eBook 14,99 Euro, Hörbuch-Download 17,95 Euro
Weiterer Buchtipp zu Mick Herron
"Slow Horses"