Herbert Clyde Lewis
Gentleman über Bord
Henry Preston Standish ist ein erfolgreicher Mann – 35 Jahre alt, wohlhabender Börsenmakler, verheiratet, zwei Kinder, Apartment in bester Lage in New York. „Alles in seinem Leben war im Lot, die Geschäfte liefen gut. Die Kinder wurden größer, und es war interessant, sich zurückzulehnen und ihnen zuzusehen. Olivia war ihm treu".
Peinliches Missgeschick
Aber eines Tages packen ihn „unkontrollierte Kräfte" und er weiß, dass er „entkommenn müsste, oder er würde verrückt werden." Er geht auf Reisen, nach Kalifornien, Alaska, Hawaii und schließlich weiter nach Panama – mit der Arabella einem Frachtschiff, das in begrenzter Zahl auch Passagiere mitnimmt. Mitten auf dem Pazifischen Ozean, 12 Grad nördlicher Breite und 108 Grad westlicher Länge passiert es: Preston möchte den Sonnenaufgang in voller Schönheit sehen und begibt sich, lange vor dem Frühstück, an Deck – korrekt gekleidet, wie immer. Da passiert ihm ein folgenschweres Missgeschick: Er rutscht auf einem Ölfleck aus und stürzt kopfüber ins Meer.
„Standishs Gedanken waren während dieser Sekunden merkwürdigerweise mehr mit Scham als mit Angst besetzt. Männer vom Schlage Henry Preston Standishs stürzten nicht einfach so von einem Schiff mitten in den Ozean. So etwas machte man schlichtweg nicht, das war alles. Es war eine blöde, kindische, ungezogene Tat ..."
Keine Schreihälse
Standish gerät nicht in Panik, und während er sich noch Gedanken über die Peinlichkeit seines Sturzes macht und sich schämt, dampft die „Arabella" davon. Zurück bleibt ein zum Glück sportlich trainierter Mensch, der in der endlosen Weite des Pazifiks irgendwo zwischen Hawaii und Panama um sein Leben paddelt – allein die Vorstellung macht normalerweise panisch: Keine Küste, keine Insel in Sicht, ringsum nur blaues, tiefes Wasser. Zum Glück keine Haie, daran erinnert sich Standish. Jeder andere hätte aus Leibeskräften um Hilfe gerufen, aber die „Standishs waren keine Schreihälse". Und selbst wenn er lauthals gebrüllt hätte, wäre niemand auf ihn aufmerksam geworden. Das Schiff ist schon zu weit weg. Die Routinen an Bord verändern sich an diesem Tag, niemand vermisst ihn. Aber er bleibt ein Gentleman, zieht sich langsam aus, ordnet seine Sachen, läßt sie in die Tiefe sinken, schaut sich den Inhalt seiner Brieftasche an:
„Die ganze Anstrengung hatte ihn etwas ermüdet, aber als er seine Brieftasche an der Schlaufe seiner Sporthose sicherte und sich dann auf den Rücken drehte, wie er es als Jugendlicher getan hatte, kehrten seine Kräfte rasch zurück. Er atmete regelmäßig, füllte seine Lunge mit der sauberen, staubfreien Luft. Er war weder von Angst erfüllt, noch betrachtete er seine missliche Lage mit großer Sorge, nur ein Gefühl der Verwunderung über die unermessliche Weite stellte sich ein."
Sozialer Mikrokosmos
Das alles erzählt Lewis sachlich, lakonisch und präzise, als würde sich sein Protagonist für's Schlafengehen umziehen. Er macht sich auch Gedanken über die Passagiere, mit denen er in den letzten Tagen Kontakte geknüpft hat und die ihn vermissen würden. Kunstvoll fügt Lewis auf diese Weise eine zweite Perspektive hinzu, die genaue Betrachtung der Mitreisenden mit den Augen eines Mannes, der sich das erste Mal seit langem für andere Leute zu interessieren begann: Für den alleinreisenden Farmer, das Missionarsehepaar, die kinderreiche Mrs. Benson, für die er vorsichtige erotische Gefühle entwickelt, den pflichtbewußten Captain und seine ihm untergeordnete Crew. Ein sozialer Mikrokosmos als Spiegel der Wirklichkeit. Als an Bord endlich klar wird, dass Standish tatsächlich verschwunden ist, bleibt nur eine Erklärung: Der Mann hat Selbstmord begangen.
Dieser kleine Roman, bereits 1937 geschrieben und vom Mare-Verlag wiederentdeckt, ist ein geniales Stück Literatur, tragisch und komisch, skurril, ironisch und berührend, denn natürlich hofft man von Seite zu Seite mehr, dass der Schiffbrüchige gerettet wird, und beobachtet dabei fasziniert, wie er sich in Gedanken zunehmend seinem Schicksal annähert. Ohne zu hadern. Vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang.
(Christiane Schwalbe)
Herbert Clyde Lewis (1909–1950), geboren in New York als Sohn russisch-jüdischer Einwanderer, Journalist, Sportreporter, Drehbuchautor und Autor von vier Romanen
Herbert Clyde Lewis "Gentleman über Bord"
Roman, aus dem Amerikanischen von Klaus Bonn
mit einem Nachwort von Jochen Schimmang
mare Buchverlag 2023, 176 Seiten, 28 Euro