Urban Waite
Keine Zeit für Gnade
Deputy Bobby Drake holt seinen Vater am Washington State Prison ab, wo Patrick Drake zwölf Jahre lang wegen Drogenschmuggel gesessen hat. Auch er war Sheriff gewesen, und nicht zuletzt deshalb wog sein Verbrechen besonders schwer.
Langes Show Down
Ob er an der Erschießung zweier Männer beteiligt war und was mit den verschwundenen 200.000 Dollar geschehen ist, wurde nie aufgeklärt – sehr zum Ärger des FBI-Agenten Driscoll, der sich an seine Fersen heftet. Das Gedächtnis der Kleinstädter von Silver Lake ist lang, und ob Patrick ein Held oder ein Gauner war, längst nicht entschieden. Urban Waite gelingt mit diesem Krimi das Kunststück, die Geschichte der Heimkehr des Patrick Drake als ein einziges langes Showdown anzulegen, mit sicherem Gespür für das angemessene Tempo, vielen unvorhersehbaren Volten und psychologisch stimmigen Figuren.
Enttäuschung über den Vater
Der Ex-Sheriff bleibt nur kurz im Hause seines Sohns, das mal ihm gehörte, denn er ist ein Mann, der es gewohnt ist, seine Probleme selbst zu lösen und dabei durchaus auch seinen Charme einzusetzen. Sein Sohn Bobby sieht sich in seinem grundsätzlichen Misstrauen, geboren aus tiefer Enttäuschung über den Vater, bestätigt, zumal er nach dessen Verhaftung viele eigene Hoffnungen aufgegeben hatte.
"Der Unterschied zwischen dem, was er wollte und dem, was tatsächlich geschehen war, war so groß wie der zwischen zwei vorüberziehenden Welten dort oben in den Sternen. Am wütendsten jedoch war Drake auf sich selbst, weil er sich von Patrick hatte einreden lassen, dass sie ein wie auch immer geartetes normales Leben haben könnten. Hinter dem Haus auf der Veranda Bier trinken und auf die Apfelbäume schauen, der Geruch von Gegrilltem und Rauch in der Luft. Das Traurigste daran war, dass Drake sich das alles noch immer wünschte. Nur wusste er jetzt, dass es das niemals geben würde."
Kein schönes Leben
Doch was tatsächlich geschah, bleibt allen Protagonisten lange verborgen: zwei Mördern gelang es, auszubrechen, und auch sie sind auf der Jagd nach Patrick und seinem Geld. Was sie mit der Entführung von Bobby und seiner Frau auslösen, durchkreuzt die Pläne aller Akteure: ganz langsam und sehr spannungsgeladen bewegen sich die Wege aller aufeinander zu. Nicht nur spielt das verlorene Vertrauen zwischen Vater und Sohn dabei eine wichtige Rolle – auch der Großvater Morgan, der nie aufhörte, sich um seinen Sohn zu kümmern, als dieser im Gefängnis saß, ist eine ungewöhnliche Figur: ein knorriger Mann von 86 Jahren, der sich weitab von den Menschen selbst versorgt.
"Das Leben des alten Mannes war nicht schön gewesen, und eine Zeitlang hatte er gedacht, das seines Sohnes würde besser sein. Nur war das nicht so gewesen, und dieselben Dinge, die langsam, aber sicher in Morgans Leben eingesickert waren, waren auch in die seines Sohnes eingedrungen. Schuld und Enttäuschung, Hoffnung auf etwas Besseres, das sich niemals einstellte, und ein Sehnen nach Erlösung, die immer knapp außer Reichweite schien."
Negative Abgängigkeit
Der alte Mann, der zum Mittler zwischen Sohn und Enkel wird, spielt in Urban Waites Krimi die Rolle des Jokers, denn er ist nicht von Gier, Schuld oder Ressentiment getrieben und deshalb schwer einzuschätzen. Sein Enkel muss nicht nur seiner Berufung als Gesetzeshüter gerecht werden und zugleich sich selbst und seine Frau schützen, sondern vor allem lernen, die Volten des Vaters zu erkennen und sich aus seiner negativen Abhängigkeit von ihm befreien.
"Was immer Patrick getan hatte, wo immer er auch war, das spielte für Drake einfach keine Rolle mehr. Ein Drittel seines Lebens war verstrichen, ohne dass er gewusst hatte, wer sein Vater wirklich war, und er begriff, dass es irgendwann nicht länger wichtig für ihn gewesen war. Patrick macht seine eigenen Fehler, und dass Drake ihm nachjagte, würde es nicht besser machen."
Einsame Wölfe
Doch bis zu dieser Erkenntnis ist es ein weiter Weg, und man geht ihn gern mit, denn der Autor aus Seattle hat auch diesen zweiten Teil seiner Reihe um Deputy Drake mit hoher Intensität komponiert und mit Spannung gepflastert. Und geschickt mit einsamen Wölfen unterschiedlichster Art bevölkert.
(Lore Kleinert)
Urban Waite *1980, US-amerikanischer Krimi-Autor, lebt in Seattle
Urban Waite "Keine Zeit für Gnade"
"Sometimes the Wolf" übersetzt von Marie-Luise Bezzenberger
Knaur TB 2016, 352 Seiten, 9,99 Euro
eBook 9,99 Euro