André Herzberg
Was aus uns geworden ist
Die Sehnsucht brachte Lea und Paul, Jakobs Eltern, 1946 aus dem Exil in London zurück nach Berlin, und die glühende Begeisterung, ein Land im antifaschistischen Geist aufzubauen. Mit langem Atem und in schönen Bögen erzählte André Herzberg in seinem ersten Roman 2015 von ihnen.
Drei Generationen
Die jüdische Tradition, die er mühsam wiederentdeckt, war tabuisiert und gab wenig Halt, doch in der Geschichte dreier Generationen ermöglicht gerade sie es dem Autor, den Nachhall langen Schweigens hörbar zu machen. "Was aus uns geworden ist", sein neuer Roman, knüpft daran an und wirft prägnante Schlaglichter in Jakobs Leben und in die Geschichten fünf weiterer Kinder jüdischer Eltern in der DDR. Jacques, der als Schauspieler und Sänger Karriere macht, schließt sich tagelang mit Migräne ein, wenn er mal wieder Pamphlete gegen Israel unterschreiben muss, und Peter, sein Sohn,
"weiß nicht, wann seine Fremdheit angefangen hat, wann er sie das erste Mal richtig spürt, er hat gelernt, nichts zu erzählen, nicht zu Hause und nicht in der Schule… Der Vater weiß nichts von ihm, von seiner Traurigkeit, wie auch Peter nichts vom Vater weiß, er kennt nur den starken Jacques."
Lebenslügen
Richards Vater Horst wurde nach der Rückkehr aus der Emigration 1957 Nachfolger des im stalinistischen Schauprozess als Konterrevolutionär verurteilten Walter Janka als Verlagsleiter des Aufbau Verlags. Den späteren Kulturminister Klaus Gysi und Vater von Gregor Gysi kann man leicht in ihm erkennen. Doch Herzberg kommt es nicht auf Enthüllung an, sondern auf die Varianten der Anpassung, die Folgen des Verschweigens, die besondere Fremdheit dieser jungen Menschen im System ihrer sich selbst verleugnenden jüdischen Väter und Mütter. Die Beschreibungen ihrer Lebenslügen gehören zu den stärksten Passagen in Herzbergs Roman:
'"Wenn es einen Gott für Richard gäbe, dann hätte er Vaters Gesicht. Vater hat gegrinst, als sie über Gott sprachen, aber er sagte zwinkernd, wenn du jemandem danken willst, dann danke mir, aber leise. Wir nehmen unser Schicksal selber in die Hand."
Als Richard Schauspieler werden will, bleibt Horst hart: "Wir sind keine Schauspieler, wir reden nicht nur, wir handeln, darauf kommt es an."
Richard wird nach der Wende Parteivorsitzender, bleibt süchtig nach Applaus:
"Das ist Balsam gegen den Schmerz, gegen all die Demütigungen in den Zeitungen, die falschen Anschuldigungen, die er aushalten musste, die falsche Freundlichkeit, die er sich selbst auferlegte, wo er vor Wut tausendmal hätte töten können, wenn er an den Vater erinnert wurde, den er immer wieder verteidigte, genau wie der Mann im Käfig, damals, der Jud Süß."
Im Schatten des Vaters
Von Harrys Sohn Eike ist wenig zu berichten, zu sehr steht er im Schatten des Vaters, der in der DDR Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde wurde, nachdem er Flucht und Illegalität überlebt hatte. Harry fühlt sich als Vertreter der vielen Toten, als ihr Verwalter, ihre Stimme, und wenn er allein in der Synagoge sitzt, kann er die Bilder hervorholen,
"... wie er es von seiner frühsten Kindheit her kennt, das Geschrei der Kinder, die Massen der Männer, das ständige Rein und Raus, der Geruch der vielen Frauen, damals oben auf der Empore, das Rauschen der Kleider, unten, vorn, die Männer neben den Thorarollen, dieser von Menschen berstende, riesige Raum."
Doch auch der in der DDR offiziell gewährte Raum jüdischen Lebens war eng, denn die Bilder aus der Kindheit waren zerschlagen und die vielen Menschen ermordet. Den Kindern der Verfolgten bot er keine Chance, aus ihrer besonderen jüdischen Geschichte Kraft zu gewinnen, denn sie galt nicht als erzählenswert und ideologisch fragwürdig.
Glamouröses Leben
Mit Feingefühl und genauem Blick skizziert André Herzberg die sehr unterschiedlichen Lebensläufe, schneidet die Facetten gegeneinander, bis sie sich zu Bildern einer kleinen und engen Welt verdichten, deren Zusammenbruch die Eltern paralysiert zurücklässt und ihre Kinder zwingt, ihre Chancen zu erkennen – was nicht immer gelingt. Jakob, mit dessen Leben André Herzberg von seinem eigenen erzählt, sucht die andere Welt, jenseits der der Eltern und der starren Regeln, in der Musik. Auch die Stasibespitzelung, die Selbstmordversuche und die exzessiven Fluchten in den Alkohol sind Herzberg vertraut: Das leichtere und glamouröse Leben als Sänger und Musiker kostete einen hohen Preis, wie er lakonisch und ohne jedes Selbstmitleid auch schon in seinem ersten Roman beschreibt.
"Es ist ein Rausch, der ihn einhüllt, von Bühne zu Bühne, dazwischen das Rollen über graues Straßenband, das bewusstlose Fallen in fremde, weiche, anonyme Betten, daraus hochkommen, jeden Tag genauso schnell wieder vergessen, weil er weiß, es hört doch nie auf."
Trügerische Sicherheit
Als es dann doch aufhört und die Mauer fällt, weht der Sturm das Land und auch die trügerische Sicherheit hinweg, und eine lange Zeit der Selbstfindung beginnt, die Ablösung von der Lieblosigkeit des Vaters, von der Wut seiner Mutter Lea, von ihrem Schuldgefühl über den Tod der Großmutter, die auf dem Weg vom Bahnhof Grunewald nach Auschwitz im Waggon starb. Auch von der eigenen Angst, und die Briefe, die seine Großmutter der Tochter im englischen Exil schrieb, verwandeln Trauer und Fremdheit in ein lebendiges Gefühl:
"Endlich kann er Johanna sehen, weil er hört, wie sie spricht. Nach so langer Zeit, erst nach Leas Tod, bekommt er das erste Mal im Leben ein lebendiges Bild von ihr, ist sie nicht mehr das Unvorstellbare seiner Kindheit, sondern einfach seine Großmutter, die ihm guttut."
André Herzberg weiß, wovon er schreibt und trifft den Ton in seinem Roman ebenso genau wie als Sänger und Musiker, damals in der DDR als Mitbegründer der legendären Band "Pankow" und später mit Soloauftritten, wie auch jetzt, wenn er sein zweites Buch vorstellt.
(Lore Kleinert)
André Herzberg, *1955 in Ostberlin, Musiker und Frontmann der in der DDR gegründeten Rockband Pankow
André Herzberg "Was aus uns geworden ist"
Roman, Ullstein 2018, 240 Seiten, 22 Euro
eBook 18,99 Euro