Dörte Hansen
Zur See
„Es gibt hier nichts Beständiges. Das Fließen, Strömen und Verlanden, Stürmen, Auseinanderreißen hört nicht auf. Land gewonnen, Land zerronnen. Alles will hier Horizont sein.“
Walfänger und Grönlandfahrer
Inseln sind Sehnsuchtsorte für die, die dort nicht leben und manchmal auch für die, die sie verließen. Dörte Hansens dritter Roman richtet den Blick auf die Menschen, die dort leben, und zwar schon lange und immer noch, und das in einer Zeit, in der sich das Leben dramatischer verändert als in vielen Jahrhunderten zuvor. Seit mehr als 300 Jahren lebt Familie Sander auf der kleinen Nordseeinsel, die mit der Fähre gut eine Stunde vom Festland entfernt ist. Walfänger waren die Männer, Kapitäne und Grönlandfahrer, die Frauen warteten, zogen die Kinder groß, warteten und trauerten, wenn das Meer einen Mann oder Sohn behielt. Hanne Sander, ruhelos und getrieben, nahm Badegäste auf, wenn ihr Mann Jens auf See war. Das schöne Haus unterm Reetdach baute sie zum Heimatmuseum aus, doch als er zurückkam, zog er sich zwanzig Jahre lang als Vogelwart in eine Hütte zurück, und sie wartet nicht mehr.
„Sie hätten anders leben können, er und Hanne. Stattdessen haben sie das Leben ihrer Eltern fortgesetzt, Seefahrer und Seemannsfrau gespielt, die Wut für eine alte Wut gehalten und die Versetzungen für unvermeidlich. Ein Erbe angetreten, das man auch hätte ausschlagen können. Und ihren Ältesten nicht davon abgehalten, diesen Fehler noch einmal zu machen.“
Unstillbares Heimweh
Dörte Hansen erzählt von Ryckmer, dem ältesten, den auf See die große Angst packte, und der sich seither auf der Insel mit Gelegenheitsjobs durchschlägt, ein Alkoholiker - „Die Welt ist undicht, und er möchte sich wie Schnee auflösen können, flüssig werden und verdunsten.“ Im Laufe eines ganzen Jahres verändert sich für ihn und seine Geschwister und Eltern vieles, doch die Nuancen, die kleinen Bewegungen und Berührungen sind es, die diesen Roman so einzigartig machen. Auch die Katastrophen schreiben sich mit Schmerz und Trauer leise in die Menschen ein. Die Schwester Eske trieb unstillbares Heimweh vom Sprachenstudium zurück auf die Insel, und für die Liebe an Land bleibt nicht viel Platz: sie weiß viel über ihre Brüder, den Missbrauch Ryckmers als Kind durch einen der Badegäste, die ungezügelte Lebensweise des jüngeren Bruders und Künstlers Henrik, der Strandgut sammelt und Figuren baut, die seinen Angehörigen unverständlich bleiben: „Immer schien er zugewandt und abwesend zugleich zu sein. Man wusste nie genau, ob er zu seinem Gegenüber oder zu sich selbst sprach.“
Tiefes Mitgefühl
Die alten Leute im Seniorenheim, um die sie sich kümmert, liegen ihr am Herzen, denn sie erträgt das Verstummen der alten Inselsprachen nicht, die mit ihren Patienten untergehen.
„Das schreckliche Verstummen nach dem letzten Wort, wenn im Seniorenheim noch eine ihrer alten Inselfrauen stirbt, noch einer von den letzten Männern. Ein Choral, der immer leiser und dann irgendwann verklungen sein wird. So muss die Stille sein, wenn große Schiffe sinken oder Kirchen untergehen.“
Die Autorin findet eine Sprache für die Menschen, die ihre Schweigsamkeit pflegen oder in ihr eingesperrt sind, und sie betrachtet die Shanty- und Matrosenfolklore der Zugezogenen mit scharfem, ethnologischem Blick und einer Portion Ironie. Zu Recht fürchtet Eske Sander, Bustouristen, Kurzurlauber und Käufer der alten Häuser würden dafür sorgen, dass die Leute von den Inseln „ihre Sprache nicht mehr sprechen, ihre Lieder nicht mehr singen, ihre Trachten nur noch für die Gäste tragen und zu Kleindarstellern ihres Lebens werden“. Von Trauer und tiefem Mitgefühl ist dieser Blick auf die Inselbewohner der Familie Sander geprägt, zugleich aber auch vom Wissen um das härtere Leben in früheren Zeiten. Die Badegäste machten das Leben leichter, und als sie zum alles überflutenden Touristenstrom wurden, der die alte Lebensweise mit sich riss und auslöschen wird, waren die Seefahrt und Fischerei früherer Zeiten längst keine Alternative mehr.
Liebe zum Meer
In der Figur des Inselpastors Matthias Lehmann zeichnet die Autorin einen Menschen, dessen Glaubensfundament erodiert, und der die Einsamkeit kaum erträgt, seit seine Frau auf's Festland zog und ihn nur noch am Wochenende besucht. Die Liebe zum Meer ist ihm geblieben, und wie alle anderen muss er Trost finden.
„Und vielleicht macht es keinen Unterschied, ob man in diesem Wasser steht und Menschen tauft oder sich in die Wellen wirft mit einem Hund. Ob man Ausschläge auf Haut und Seele hat oder verlassen wurde. Die See versorgt und hat genug für alle.“
Das jedenfalls ist die Hoffnung. Dörte Hansens melancholischer Ton, ihre schön rhythmisierte Sprache vermeidet jegliche Sentimentalität und Heimattümelei und baut zarte Brücken zwischen den auf der Insel Verbliebenen, die der Vergangenheit ebenso wie der Zukunft standhalten müssen. Auch das ist die Hoffnung, doch die Autorin hat die Gabe, das Meer und die Natur an seinen Rändern so genau zu beschreiben, dass man ahnt, was am Ende bleiben wird: die Menschen nur, wenn ihnen neues, anderes Verhalten gelingt. Die Zwergseeschwalben schon eher – wenn man sie leben lässt.
„Sie fliegen nicht für ihn. Sie waren vor ihm hier und werden nach ihm hier sein, wie die Regenpfeifer, die in der Brandungszone trippeln, und die Lachmöwen, die auf den flachen Wellen schaukeln.“
(Lore Kleinert)
Dörte Hansen, *1964 in Husum, Schleswig-Holstein, Redakteurin und Autorin für Hörfunk und Print, lebt in Nordfriesland
Dörte Hansen „Zur See“
Roman, Penguin Verlag 2022, 256 Seiten, 24 Euro
eBook 19,99 Euro, AudioCD 19,99 Euro