Eugen Ruge
Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna
„Glücklich ist dieser Ort“, schrieb ein Mensch vor Jahrhunderten auf eine Mauer der Via Stabiana Pompejis, und was für die Menschen, die damals lebten und mit der Stadt untergingen, Glück bedeutete, untersucht Eugen Ruge auf einer Zeitreise in die Vergangenheit.
Mit Witz erzählt
Ein Unbekannter erklärt uns, die „wahre Geschichte vom Untergang Pompejis“ auf 18 Schriftrollen festgehalten und in einer Amphore verschlossen zu haben, weil keiner seinen Bericht über ein „schmutziges, saures und kleinliches Kapitel der Stadtgeschichte“ hören wollte:
„Wahres und Falsches wird berichtet, Gesehenes und Erträumtes, Gehörtes und Wiedergekäutes, ganz wie es sich nach einer solchen Katastrophe gehört. Nur eins ist auffällig: Niemand nennt die Sache beim Namen.“
Ruge lässt ihn erzählen, mit Witz und Abstand zum Geschehen und aus der Position des überlegenen Beobachters heraus, der die politischen Winkelzüge ebenso gut kannte wie die Begierden seiner Mitbürger. Alle nur möglichen Fraktionen lagen im Streit miteinander und waren auch untereinander verfeindet, über Fragen der Genusssucht und Obszönität wie über die „arschkriecherische Anpassung an den römischen Moralismus“. Rom ist zwar mächtig und hat die früheren Aristokraten der Stadt besiegt, doch noch immer regt sich Widerstand. Zum Beispiel in Gestalt des kleinen, zornigen Maras, der vom Aufbau einer neuen Siedlung der Gleichen träumt, während Pompeji nach einem schweren Erdbeben nur schwer wieder in Gang kommt und unter Verwahrlosung und steigenden Immobilienpreisen leidet.
„Was war denn das Resultat der großartigen römischen Wasserleitung, politisch gesehen? Sie machte die Pompejaner noch abhängiger von Rom. Wozu dienten die wunderbaren römischen Straßen? Dem Krieg. Und selbst das monatliche Weizenkontingent, das das römische Imperium in Ägypten oder sonstwo zusammenstahl, hatte am Ende den Zweck, die Leute ruhigzustellen.“
Angst vor dem Vulkan
Unruhe also allenthalben, und ein junger Mann, Jowna, genannt Josse, wird durch sein plötzlich entdecktes Redetalent an die Spitze einer Bewegung der Armen und Besitzlosen gespült, die sich aus Angst vor dem Vulkan um neue Perspektiven bemühen, als Aussteiger vor den Toren. Man fühlt sich an die Hippies der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts erinnert, deren politischer Protest sich ebenfalls in Organisationen verfestigte, ein Kunstgriff Ruges, der seinen Roman über pompejanische Zeitgenossen äußerst zugänglich macht und mit feinem Spott unterlegt. Wenn Maras etwa die Abschaffung des Privateigentums predigt, ist das Volk nicht amüsiert: „Wieso Privateigentum abschaffen? Anschaffen! sagten die Sackträger. „Reich werden wollen wir!“, und das ist Leserinnen und Lesern heute doch sehr vertraut. In der Figur des Josse zeichnet Ruge einen Mann, der die Annehmlichkeiten eines besseren Lebens kennenlernt, zumal in Gestalt der schönen und reichen Livia, und Gefallen daran findet.
„Wieder einmal fühlte er sich dumm und unbeholfen. Wieder einmal war er in eine Welt eingetreten, deren Gesetze er nicht kannte. Gewiss, er beherrschte die Kunst des bedeutsamen Schweigens wie die des nichtssagenden Redens. Er konnte mit bruchstückhaftem Wissen glänzen und machte sich durch allgemein-unverständliche Andeutungen interessant. Zudem putze er sich neuerdings die Zähne. Dennoch stand unser Held am Rande der Überforderung.“
Kundiger Zeitgenosse
Was tut also der aufsteigende Aussteiger? Er passt sich an, nutzt seine Talente, sein Gespür für die Stimmung der einfachen Leute, und genießt seinen Aufstieg, bis er gezwungen ist, Verrat an den früheren Idealen zu üben. Wie er das Schritt für Schritt bewältigt, beschreibt der Autor im Gewand des kundigen Zeitgenossen vergnüglich und verspielt, denn dass Pompeji nicht an einen besseren Ort verlegt, sondern vom Vulkanausbruch verschlungen wurde, weiß er so gut wie wir. Die Ignoranz und die Irrtümer der damaligen Philosophen wie etwa Plinius, und der städtischen Politiker bringt er dabei beiläufig und witzig zur Sprache. Natürlich sind alle Bedeutungsträger männlich, denn Frauen konnten allenfalls, wie Livia, nur Strippen ziehen.
Die Tricks und Täuschungen ähneln denen unserer eigenen Zeit durchaus und erscheinen als zeitlos aktuell, geprägt von Gier und Machthunger. Im Niedergang einer strahlenden Stadt hält uns Ruge einen „fernen Spiegel“ vor Augen, und in den Zeitgenossen seines Chronisten finden sich viele Anklänge an Bekanntes, etwa wenn Josse erkennt, dass seine Mitbürger ihre Bequemlichkeit vorziehen, obwohl Verhaltensänderungen ratsam wären. Und so ist die Frage des von der Geschichte wunderbar inspirierten Schriftstellers wenig mehr als nur rhetorisch:
„Werdet ihr unsere Winke verstehen? Werdet ihr euch die Mühe machen, unsere Zeichen zu deuten, und daraus euren Nutzen ziehen?“
(Lore Kleinert)
Eugen Ruge, *1954 in Russland, aufgewachsen in Ost-Berlin, diplomierter Mathematiker, Autor von Theaterstücken, Hörspielen und Romanen, lebt in Berlin und auf Rügen
Eugen Ruge „Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna“
Roman, dtv 2023, 368 Seiten, 25 Euro
eBook 21,99 Euro, AudioCD 24,99 Euro