Jackie Thomae
Brüder
Shortlist Deutscher Buchpreis 2019
Zwei Brüder, die sich nicht kennen, und zwei Biografien, die unterschiedlicher nicht sein können: Mick und Gabriel, beide in der DDR geboren, mit dunkler Hautfarbe, aufgewachsen ohne Vater, dafür mit mutigen Müttern: Idris aus dem Senegal ließ nach seinem Studium Monika und Gabriele zurück, die eine mit Baby, die andere schwanger.
Die große Blonde mit dem schwarzen Baby
Monika, im Bewusstsein sozialistischer Gleichberechtigung erzogen und "die Tochter eines von den Nazis verfolgten Kommunisten", wollte nicht in der DDR bleiben, in der man Wörtern wie "Frieden, Freundschaft oder Solidarität die Seele geraubt hatte." Sie geht mit ihrem Sohn in den Westen:
"Ihr Kind sah exotisch aus, okay. …. Nicht jeder Vater hatte durch sein Aussehen ein Dauerfragezeichen hinterlassen. Was für ein entzückendes Kind, woher kommt denn der Papa? Niedlich, haben Sie ihn adoptiert? So aber gab es sie, die große Blonde mit dem schwarzen Baby, die etwas andere Kleinfamilie."
Micks Hautfarbe scheint auch später keine Rolle in seinem Leben zu spielen. Er ist ein Chaot, bricht eine Ausbildung ab, lässt sich ziellos durch das Berlin der Neunziger treiben, bleibt liebenswert, charmant, durchtrainiert und körperbewußt, ist Clubbesitzer, Partygänger, Frauenliebling.
Leben ohne Ziel
Getragen von einem unerschütterlichen Selbstbewusstsein, ermutigt von seiner unkonventionellen Mutter: "Du bist klug, du bist gut, trau dich", traute er sich, immer wieder, startet problemlos neu durch und fällt (fast) immer auf die Füße – bis zum nächsten Hänger, oft ohne Ziel:
"Wenn die Endzeitstimmung einsetzte, diese unerklärliche, fast greifbare Angst vor dem Tageslicht, wo wäre er hingegangen ohne Delia? Er wäre mit Unbekannten weitergezogen bis zur Ohnmacht."
Delia ist seine Freundin, eine erfolgreiche Juristin. Mit ihr lebt er in einem großen Haus in Pankow, hier kommt er zumindest an drei Tagen in der Woche zur Ruhe. Sie fragt nicht. Aber als sie ein Kind von ihm will, verweigert er sich. Die Folge ist die Vertreibung aus dem Paradies, sein neuer Lebenslauf beginnt in Thailand im Mai 2000, da ist er gerade dreißig.
Bürgerliche Erfolgsgeschichte
Ganz anders Gabriel, dessen Leben Jackie Thomae in der zweiten Hälfte des Romans erzählt, nachdem sie Idris vorgestellt hat, den Vater der beiden. Gabriel entflieht "dem stickigen Wartezimmer" Berlin und zieht nach London:
"Ich wollte alles richtig machen, ich entwickelte eine Anpassungsmanie, wie eine Person, die eine neue Identität annehmen muss, beobachtete ich die Londoner und ihre Gepflogenheiten."
Sein Leben ist klar strukturiert, er ist ehrgeizig und karrierebewusst, ein weltweit erfolgreicher Stararchitekt; er verliebt sich, heiratet, bekommt einen Sohn, der deutlich unangepasster wird als sein Vater. Gabriel genießt bürgerliche Existenz, Ruhm und Geld, achtet aber nicht darauf, dass Stress, Erfolg und seine Flüge rund um die Welt ihn in den Burnout treiben: Er, selbst schwarz, rastet aus, nur ein einziges Mal, leider gegenüber einem schwarzen Mädchen:
"Mir wurde ein sexueller, rassistisch motivierter Übergriff auf eine meiner Studentinnen vorgeworfen … Das Mädchen hatte mich erkannt. Ich sie nicht. … Es brauchte kein Universitätsgebäude, um eine Studentin anzugreifen, man konnte ihr auch ganz zufällig morgens vor seinem eigenen Haus begegnen."
Was den Menschen prägt
Ein spannender Perspektivwechsel: Gabriels Frau Fleur und er selbst erzählen rückblickend und abwechselnd das gemeinsame Leben, in dem, abgesehen von jenem existenzbedrohenden Vorfall – Gabriel nur einmal auf seine Hautfarbe gestoßen wird, in einem Gesundheitszentrum:
"Kategorie B umfasste mixed/multiple ethnic groups, also mich. Hier wurde unterschieden zwischen weiß und schwarz aus der Karibik, weiß und schwarz aus Afrika, weiß und asiatisch und sonstigen Mixen …"
Aber es dreht sich in diesem rasant erzählten Roman nicht vordergründig um Hautfarbe und Rassismus, auch nicht um autobiografische Aufarbeitung - Jackie Thomae ist Tochter eines schwarzen Vaters und einer weißen Mutter. Beides schwingt mit, doch es geht vor allem darum, wie wir werden, was wir sind, wie Kindheit, soziales Umfeld und Zeitgeist Menschen prägen, und was geschieht, wenn sie sich nicht nahtlos in die üblichen Klischees einordnen lassen. Dabei gelingt der Autorin das Kunststück, die beiden Brüder mit einer großen Schar von Personen und "Typen" zu umgeben, ohne dass sie sich darin verlieren, sie einzubetten in gesellschaftliche Umbrüche und Veränderungen - untergehende DDR, emanzipierte Frauen, die Zeit nach der Wende, Millenium, das Szene-Berlin der Neunziger, das "postrassistische" London, die zunehmende Bedeutung sozialer Medien - und ihnen ein klares Profil zu geben. Ihr gelingt auch, typisch männliche Wesenszüge nachzuempfinden und sie in den Blicken der jeweiligen Frauen zu spiegeln, die selbst starke Charaktere sind.
Für euch, schwarze Schafe
Es macht Spaß, diesen Roman zu lesen - ungekünstelt, authentisch, spannend und emotional geschrieben von einer Autorin, die schwarz und weiß, weiblich und männlich gleichermaßen in den Blick nimmt und dabei ein großes Panorama menschlicher Eitelkeiten und Sehnsüchte schafft. Klug, witzig und präzise beobachtet sie eine urbane Generation und ihre Suche nach Selbstverwirklichung – auch und gerade in Berlin. Augenzwinkernd und doppeldeutig ist ihre Widmung: "Für euch, schwarze Schafe". Und das Buchcover illustriert die Vielfalt dieses Romans in Schattierungen von dunkelbraun bis hellbeige.
(Christiane Schwalbe)
Jackie Thomae, *1972 in Halle an der Saale, Journalistin und Fernsehautorin, lebt in Berlin.
Jackie Thomae "Brüder"
Roman, Hanser Berlin, 430 Seiten, 23 Euro
eBook 16,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Jackie Thomae
"Momente der Klarheit"