Johanna Sebauer
Nincshof
Nincs heißt auf ungarisch „gibt es nicht”, aber Nincshof gibt es schon, zumindest im überaus unterhaltsamen Debütroman von Johanna Sebauer - ein Dorf weit im Osten von Österreich an der Grenze zu Ungarn gelegen, eine Idylle in der Provinz.
Freiheit für Nincshof
„Wo sonst keine Erhebung den Blick stört, wo der Horizont weit ist und die Sehnsüchte groß sind, unweit des Neusiedler Sees, einer salzigen, graubraunen Lacke ... duckt sich Nincshof mitten hinein ins Schilf. Ein paar Gassen, ein paar Häuser, Weingärten, Gurkenäcker und rundherum viel Nichts.”
So soll es auch bleiben. Das wünschen sich zumindest der Bürgermeister und zwei Mitstreiter, die sich Oblivisten nennen. Mehr noch: Nincshof soll ganz vergessen und in einen nahezu paradiesischen Zustand versetzt werden, abgeschottet von Elend und Regeln einer nicht mehr überschaubaren, modernen Welt. Mit dabei ist auch Erna Rohdiebl, eine rüstige 80jährige Witwe, bestens geeignet für heimliche Taten, weil sie verbotenerweise nachts im Pool der Nachbarn schwimmen ging. Bei Speckbrot und Pusztafeigenschnaps gedeihen die Pläne, wie man ein Dorf in Vergessenheit bringt. Man löscht Internet-Einträge, baut Straßenschilder ab, vertreibt Fahrradtouristen mit Gülle-Attacken und läßt ganze Bücher und Buchseiten aus alten Chroniken verschwinden.
Heldin der Vergangenheit
Die Oblivisten haben allerdings nicht mit einem neu zugezogenen Ehepaar gerechnet: Silvano Mezzaroni, ehemaliger Architekt, hat seine Liebe für südamerikanische Irrziegen entdeckt und gleich eine ganze Herde mitgebracht. Er will sie nicht nur züchten, sondern auch touristische Wanderungen mit ihnen im Internet anbieten. Seine Frau, Isa Bachgasser, ist eine bekannte Dokumentarfilmerin, inzwischen mit Angststörung, die sich Ruhe wünscht, aber das Recherchieren nicht lassen kann. Obendrein entdeckt sie beim Joggen ein unscheinbares, kleines Schild, hinter Efeu versteckt, auf einem Schotterweg zwischen Gärten, Geräteschuppen und Feldern:
„In Erinnerung an Martha E., das tapfere Waschweib. Freiheit den Nincshofern! Nincshof der Freiheit.”
Aber wer war Martha? Offenbar eine Freiheitsheldin und Revolutionärin in der Waschküche - aber auch Großmutter jener Erna Rohdiebel, mit der sich die Filmemacherin anfreundet. Die beiden sind sich sympathisch, und Erna fühlt sich nicht nur geschmeichelt, sondern hat genug Zeit, ausführlich Fragen zu beantworten und dabei jene Geschichten zu erzählen, die sie von Großmutter Martha in ihrer Kindheit gehört hat. Isa Bachgasser ist elektrisiert:
„Einst hat es hier nur Schilf und Sumpf gegeben. Und mittendrin Nincshof, ein Dorf auf Stelzen ... Die Häuser waren über Stege miteinander verbunden, und es hat niemand, wirklich niemand gewusst, dass es dieses Dorf gibt ... vielleicht muss ich einsehen, dass ich die Nincshofer einfach nicht verstehe ... Erzählen mir die kuriosesten Geschichten, wissen nicht, ob sie wahr sind oder erfunden, und das ist ihnen auch vollkommen egal.”
Wahr oder erfunden
So ähnlich geht es einem bei der Lektüre, denn dieser auch sprachlich so lebendige Roman, geschrieben mit beeindruckender Lust am Fabulieren und viel Empathie für die verschrobenen Nincshofer, ist so ungewönlich, kurzweilig und heiter, dass es nicht darauf ankommt, was wahr oder erfunden ist. Johanna Sebauer spielt mit Märchen, Realität und Fiktion, mit der Lust der Städter auf ein geruhsames Landleben, mit der Suche einsamer Dörfler nach touristischen Attraktionen, mit der beständigen Sucht, immer und überall informiert sein zu müssen, obwohl man dieser von Medien beherrschten Welt doch am liebsten entfliehen möchte. Nicht zuletzt gewährt dieser Roman ironische Einsichten über das Burgenland, wo die Autorin in einem Dorf nahe der ungarischen Grenze aufgewachsen ist. Ein Bibliothekar weiß, wovon er spricht:
„Das ganze Burgenland samt seinen Bewohnerinnen und Bewohnern ist eine einzige Merkwürdigkeit und ein einziges Rätsel ... ich habe irgendwann bemerkt, dass ich gut beraten bin, wenn ich den Dingen, die hier passieren, mit einer Offenheit begegne und einer Neugierde, die nicht zwingend ein Ziel verfolgt. ... Wissenschaftliche Freude am Zerlegen und an der Suche nach Kausalitäten hat sich hier im Burgenland nicht bewährt ...”
(Christiane Schwalbe)
Johanna Sebauer, *1988 in Wien, Studium Politikwissenschaft und Journalismus, Debütpreis des Harbour Front Literaturfestivals 2023, 3sat- und Publikumspreis bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur (Bachmannpreis) in Klagenfurt, lebt in Hamburg.
Johanna Sebauer "Nincshof"
DuMont Verlag 2023, 368 Seiten 23 Euro
Taschenbuch 2024 14 Euro, eBook 18,99 Euro, Hörbuch 19,99 Euro