Judith Kuckart
Kein Sturm, nur Wetter
"Vierundfünfzig ist zum Sterben zu früh und gar nicht richtig alt." Als die namenlose Erzählerin diesen Satz über eine andere, verstorbene Frau sagt, die sie nicht einmal kannte, ist sie mit dem erfolg- und arbeitslosen Dramaturgen Johann, sechsunddreißig Jahre alt wie sie, an den Rhein gezogen, hatte zwar ihre Doktorarbeit über "Emotionale Ansteckung“ fertig, doch als Ärztin wollte sie nicht arbeiten.
Erinnern und Erleben
Sie hielt sich als Lektorin fremder Texte über Wasser, und mittlerweile arbeitet sie wieder in Berlin, als "bessere Sekretärin" an einem neurobiologischen Institut. Ohne Johann. Mit vierundfünfzig Jahren und ihren Erinnerungen. Als sie mit achtzehn zum Studium nach Westberlin kam, kam sie mit Viktor zusammen, damals sechsunddreißig, und der Mann, den sie jetzt zufällig im Café des Flughafens Tegel trifft, ist sechsunddreißig Jahre als, achtzehn Jahre jünger als sie. Judith Kuckart baut aus diesen Zahlen ein fragiles Gerüst ihres Romans, dessen Abschnitte zudem durch sieben aufeinanderfolgende Wochentage gegliedert werden. Fragil und durchlässig, denn angestoßen durch diese letzte Begegnung mit Robert Sturm, der nach sieben Tagen wieder auf dem Flughafen landen wird, machen sich die Erinnerungen dieser Frau selbstständig, mischen die Zeiten ihres Lebens auf und zerfallen wieder, in Geschichten, Gedanken, Gefühle.
"Erinnern und Erleben waren vom Standpunkt des Gehirns aus betrachtet das Gleiche, wusste sie." Denkt sie, die promovierte Neurobiologin.
Wenig tröstlich
Doch die Autorin Judith Kuckart hat ein Praktikum in der Neurologie der Uni Heidelberg gemacht, um sich über die neuesten Erkenntnisse über das menschliche Erinnern und Vergessen gründlich zu informieren, und in ihrem Roman beschreibt sie, wie trügerisch und wenig tröstlich es ist, wenn sich aus den Erinnerungen kein Leben mehr gewinnen lässt. Ihre einsame Protagonistin ist unter ihren Möglichkeiten geblieben, und ihr Blick auf sich selbst als Achtzehn- und Sechsunddreißigjährige kann sie nicht bereichern, sondern lotet melancholisch die Verluste dieser vielen Lebensjahre aus. Was den Roman lesenswert macht, ist die Kunstfertigkeit und sprachliche Originalität, mit der Judith Kuckart in das Leben dieser Frau taucht und die lineare Zeit außer Kraft setzt. Etwa, wenn sie sich an Victor erinnert, den 68er und Architekturdozenten, den sie vielleicht auch nur an eine andere erinnerte. Damals und heute weiß sie nicht, ob der das Beste oder Schlimmste war, das ihr passieren konnte:
"Zwischen diesem vernieselten Märztag und dem Märztag, an dem Viktor und sie sich wieder trennen würden, würden viele, viele Jahre liegen…Wie melancholisch sah dieser Mann aus, wenn er nicht lächelte, und wie strahlend, wenn er es endlich einmal tat. Wahrscheinlich ist er ein guter Liebhaber, dachte sie, obwohl sie noch keine Ahnung von der Liebe hatte."
Stilles Versprechen
Dadurch, dass die Namenlose immer in der dritten Person spricht, bleibt die Distanz zu ihr groß, und sie droht in der Konstruktion des Romans unterzugehen, obwohl es doch ihre Geschichte ist. Die Männer gewinnen in ihrer Erinnerung deutlichere Kontur, der Ostdeutsche Johann vor allem, ihre große Liebe aus der Silvesternacht der Jahrtausendwende:
"Fast jede Frau würde sie um ihn beneiden. Nicht wegen seiner großen Hände, mit denen er Strom verlegen konnte, sondern eher wegen eines stillen Versprechens, das der Kern seiner Person war. Neben Johann konnte eine Frau in fetten wie mageren Jahren am Fenster stehend den Himmel über dem Haus gegenüber entlangziehen lassen in der langsamen Geschwindigkeit der Erde."
Doch ihre Wege trennten sich, ohne dass sie es wollten, zerrieben zwischen Erfolglosigkeit und Zukunftsmüdigkeit:
"Niemand hatte ihnen gesagt, dass die zweite Hälfte des Lebens so viel schwerer sein würde als die erste."
Würde und Ehrlichkeit
Judith Kuckarts Roman reflektiert das Scheitern einer Frau und die Brüchigkeit der Konstruktionen, die ihre Identität ausmachen sollten. Dabei vermeidet sie es, zu psychologisieren und verhilft ihrer zerfallenden Heldin zu einer, wenn auch disparaten Würde. Sie lässt sie zwischen ihren Erinnerungsbruchstücken mit lakonischer Ehrlichkeit balancieren; alles, so heißt es, schmerze sich einmal durch bis auf den Grund und komme dann wieder zum Vorschein. Und der Roman spielt gekonnt mit literarischen Bezügen: Während einer Friedhofsführung etwa rezitiert ein alter Mann Verse von Rilke, in denen sich das Dilemma der einsamen Frau spiegelt:
"Und wir: Zuschauer, immer, überall, /dem allen zugewandt und nie hinaus!/Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt./Wir ordnens wieder und zerfallen selbst…"
(Lore Kleinert)
Judith Kuckart, *1959 in Schwelm/Westfalen, Autorin und Regisseurin, mit zahlreichen Literaturpreisen und Stipendien ausgezeichnet, lebt in Berlin und Zürich
Judith Kuckart "Kein Sturm, nur Wetter"
Roman, DuMont Buchverlag Köln 2019, 224 Seiten, 22 Euro
eBook 17,99 Euro