Karl-Markus Gauß
Das Erste, was ich sah
Das erste, was das Kind bewusst vernimmt, ist die Stimme aus dem Radio, die Namen vermisster Soldaten verliest und die Orte, wo man sie zum letzten Mal gesehen hat. In den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts sind diese Stimmen aus dem Radio mächtig, regen sie doch die Fantasie der Kinder an, die mit den Geheimnissen hinter den Stimmen heranwachsen.
Bücher zum Leben
Mit ihnen verschmelzen die Stimmen der Väter und Mütter, von deren Versammlungen in den Wohnküchen die Kinder damals ausgeschlossen waren:
"Die Stimmen schwellen an und ab, es ist ein stundenlanges Rollen und Branden, das sich zu stürmischem Brausen und wütendem Poltern steigert, wenn die Männer zu streiten beginnen und die Frauen sie nur für kurz zu beschwichtigen vermögen, denn einmal in Rage geraten, fangen sie bald wieder zu schreien an – Verräter, Nazi, Kommunist."
Das erste, was das entsetzte Kind, aus dem Schlaf gerissen, sah, war sein Vater, wie er Bücher aus dem Fenster wirft – am Ende hat der Junge lesen gelernt, und die frühe Erkenntnis, dass Bücher zum Wichtigsten im Leben zählen, wird sich als richtungsweisend im eigenen Leben bestätigen.
Magischer Erzähler
Karl-Markus Gauß schafft hier eine elegante Verbindungslinie durch die wunderbar genauen Szenen seiner Kindheit, bis zum Leben des Autors als vielfach preisgekrönter Essayist. In Salzburg lebt die Flüchtlingsfamilie aus der donauschwäbischen Batschka im Block mit achtzehn Parteien. Wer in diesen Jahren aufwuchs, erinnert sich an die heimatvertriebenen, zusammengewürfelten Familien aus den östlichen Regionen, deren Namen wir heute kaum mehr kennen.
Sehnsucht und Protest
Dank seiner erzählerischen Magie erkennt man auch die Treffpunkte der Kinder mühelos wieder, die Teppichstangen, die Plätze bei den Mülltonnen, die Sandkiste.
"Immer wenn wir eine Burg errichtet hatten, die sicher stand, mit ihren Nischen und Wölbungen, Brücken und Torbögen, traten wir nun ein paar Schritte zurück, nahmen Anlauf und sprangen auf sie. Die Mädchen schrien Protest. Doch in der Sandburg unterlag unsere Sehnsucht, etwas zu schaffen, stets der Verlockung, selbst niederzumachen, worum wir uns eifrig bemüht hatten."
Schrecken der Kindheit
Der große Essayist Gauß hält sich an die Erinnerungen des Kindes, ohne der Verlockung zu erliegen, sie zu verklären. Er weiß um die Schrecken, die von schwarzen Telefonen ausgehen konnten, von stärkeren Jungen, die zu Peinigern wurden, von toten Tieren, von den Holzruten der Lehrer, die ihr Bemühen, lesen oder turnen zu lehren, gern mit kräftigen und geradezu pflichtgemäßen Hieben auf Kinderhände unterstrichen. Er erzählt von der Scham des Jungen, der unfähig ist, auf eine freundlich gemeinte Einladung eines Mädchens zu reagieren, und von den winzigen Brutstätten des Protests dagegen, ein braves Kind sein zu müssen - wenn sich der Widerstand darin erschöpfte, im eiskalten Winter heimlich die Mütze zu verweigern.
Große Gefühle
Zorn und Angst sind hingegen große Gefühle, und der Autor beschwört mit Feinfühligkeit ihre Macht über das Kind. Durch die Beiläufigkeit der vielen Miniaturszenen ermöglicht er zugleich den Abstand, der bewusst überquert werden muss, um in diese versunkene Welt zurückzukehren oder als sehr viel jüngerer Mensch begreifen zu können, wie es damals war: Nach dem verlorenen Krieg, als die Nachbarn eng zusammengerückt waren und sich zugleich befehdeten, als die Debatten über die Verluste allmählich vom Schweigen über die verlorene Moral überlagert wurden.
An dieser Entdeckungsreise des Kindes zu sich selbst und zur Welt teilzuhaben, ist ein großes, literarisches Vergnügen: Karl-Markus Gauß ist ein erfahrener Reisebegleiter und hinreißender Erzähler, dem es gelingt, menschliches Erleben mit den Tiefen der Geschichte zu einem feinen und aufschlussreichen Geflecht zu verweben.
(Lore Kleinert)
Karl-Markus Gauß *1954 in Salzburg, Autor und Herausgeber der Zeitschrift "Literatur und Kritik", lebt in Salzburg
Karl-Markus Gauß "Das Erste, was ich sah"
Zsolnay-Verlag 2013, 112 Seiten, 14.90 Euro
eBook 11,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Karl-Markus Gauß
"Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer"