Maria Cecilia Barbetta
Nachtleuchten
Shortlist Deutscher Buchpreis 2018
"Als Kind habe ich mich immer geschämt, weil ich überhaupt keinen Orientierungssinn besitze, das ist bis heute der Fall, und mit den Jahren habe ich festgestellt, dass das ein großer Vorteil ist, wenn es darum geht, ein Buch zu schreiben."
Überbordende Erzählfreude
Das sagt Maria Cecilia Barbetta in einem Interview, und eine klar strukturierte Orientierung darf man als Leser in ihrem Roman "Nachtleuchten" auch nicht erwarten. Es ist ein Buch, in dem sich eine überbordende Erzählfreude mit scheinbar spontanen Gedankenfolgen und Erinnerungen verbindet. Es entsteht eine Art literarisches Wimmelbild, in dem eine kaum überschaubare Menge von Personen an nicht minder zahlreichen Schauplätzen miteinander agiert. Und was für Schauplätze! "Ewige Schönheit" heißt ein Frisiersalon, in dem Celio geniale Frisuren zaubert, kontrolliert von seiner verstummten Mutter, die ihn aus dem Sessel unverwandt beobachtet.
Kleine große Stadt
Das Team von "Autopia", einer gut beschäftigten Autowerkstatt, ist eine Art Begegnungs- und Diskussionsszentrale für Kunden und Mitarbeiter, in der Visionen entstehen. Nicht weit entfernt werden in einer Bäckerei köstlichste Teilchen, Törtchen und Schnittchen zubereitet, die Kneipe "Abakadabra" ist Treffpunkt von zwei Polizisten, die das politische Geschehen nicht unbedenklich finden. Der "Ballester Lokalanzeiger" schmückt kleinstädtische Vorfälle schon mal zu Großereignissen aus, und für Sauberkeit und Ordnung sorgt ein ganz besonderes Unternehmen:
"'Clean Eastwood' war die örtliche Reinigung und der dazugehörende Gehweg ihre Visitenkarte. Das Trottoir war nicht mit Pflastersteinen oder Gehwegplatten gelegt, sondern bestand aus hellblauen Glasmosaiksteinchen."
Rückkehr aus dem Exil
Wir befinden uns im Jahr 1974 in Ballester, einem Einwanderervorort von Buenes Aires, in dem die Autorin aufgewachsen und auf eine deutsche Schule gegangen ist. Mittendrin eine neogotische Kirche mit lebhafter Geschichte, weil von zwei Bauherren erbaut, aus finanziellen Gründen "mit nur einem Schiff und einem Turm von immerhin fünfunddreißig Metern Höhe". Juán Domingo Perón ist aus dem Exil zurückgekehrt, noch immer zeugen davon Sprüche und Parolen an den Wänden:
"Es steht geschrieben, beteuerten die Armen und zeigten voller Stolz auf ihre Mauern mit dem Spruch PERÓN KEHRT ZURÜCK. .. Überall hatten die Wände recht behalten, die Parolen wie Litaneien im Geiste wieder und wieder beschworen von Arbeitern, Studenten und Anhängern linker Gruppierungen. Das Wort war Fleisch geworden und der General eine Legende zum Anfassen .. Dass ihr Anführer in vielerlei Hinsicht dem Tod näher war als dem Leben, wollten die meisten .. nicht wahrhaben."
Leuchtende Madonna
Perón wird zwar wiedergewählt, stirbt kurze Zeit später, das neue Idol der Arbeiter ist seine Nachfolgerin, Isabel, seine zweite Frau. Regiert wird aber von Minister López Rega, einem Esoteriker und die Militärdiktatur 1976 wirft bereits ihre Schatten. Aber Barbetta stellt Personenkult und bedrohliche Entwicklung des Landes nicht in den Mittelpunkt, sie lässt die politische Lage zwischen den Zeilen immer wieder aufscheinen - wenn zum Beispiel darum geht, Vorräte zu bunkern:
"Mit den kulinarischen Rücklagen ging sie .. sehr sparsam um. Sie hortete sie in eienm Kabuff, das sie (wie der Dämon die Grube, sagte Elías) strengstens bewachte. Fragten ihre Söhne sie, weshalb sie ihnen keinen Zutritt gewährte, gab sie dem Wirtschaftsminister Celestino Rodrigo die Schuld, der Inflation, der Lebensmittelknappheit, den Schlangen vor den Geschäften."
In all' dem Gewimmel und Gewusel leuchtet eine Madonna aus Plastik, ein Souvenir des Großvaters von Teresa: Sie ist die Vorzeigeschülerin des Instituto Santa Ana, einer katholischen Klosterschule, in der die Mädchen für eine ganz besondere Schwester Maria schwärmen, die sich der Theologie der Befreiung verschrieben hat und plötzlich verschwindet. Teresa hat sich in den Kopf gesetzt, eine "steinalte Tradition" zu erneuern und mit einer "Wandermadonna", die mit Weihwasser gesprengt ist und algengrün fluoresziert, von Haus zu Haus zu ziehen:
"Teresa wollte mit ihren Nachbarn plaudern: Sie wollte mit den kleinen beginnen und mit den großen enden … (sie) hatte schon immer wissen wollen, wie die steinreichen Eltern von Ariadna leibten und lebten... Die Wandermuttergottes hilft allen, die im Dunkeln tappen. .. Diese Maria leuchtet in der Nacht. Du darfst sie beherbergen und zu ihr beten."
Farbenprächtiges Spektakel
Maria Cecilia Barbetta erzählt in drei großen Kapiteln mit jeweils 33 Episoden, springt leichtfüßig und unkonventionell von einer Geschichte in die nächste, geizt nicht mit literarischen und historischen Bezügen, lässt eine Unmenge von Personen durch Ballesters Straßen schwirren und irren und inszeniert mit überschäumender Fantasie ein sprachgewaltiges, farbenprächtiges und funkelndes Spektakel. Dabei kommt es nicht auf den roten Faden oder einen durchgängigen Plot an. Sie gibt den kleinen Leuten in ihrem ganz normalen Alltagswahnsinn eine Stimme - mit ihrem Spaß an Klatsch und Tratsch, ihrer Angst vor politischer Veränderung. Sie jongliert mit der Sprache, schreibt in der lateinamerikanischen Tradition des magischen Realismus mit all' seiner Fabulierkunst. Man kann ihr in "Nachtleuchten" zwar nicht auf allen Neben- und Seitenwegen folgen, verliert immer wieder mal den Überblick angesichts der Unmenge von Anspielungen, Schauplätzen und Personen. Aber trotz allem ist die Lektüre dieses üppigen und buchstäblich fantastischen Romans ein großes Vergnügen.
(Christiane Schwalbe)
María Cecilia Barbetta, *1972 in Buenos Aires, Argentinien, lebt seit 1996 in Berlin, schreibt auf Deutsch, ausgezeichnet mit dem Alfred-Döblin-Preis
Maria Cecilia Barbetta "Nachtleuchten"
Roman, Fischer 2018, 528 Seiten, 24 Euro
eBook 19,99 Euro