Mirjam Wittig
An der Grasnarbe
Eine Frau auf einem Bahnhof, sie bekommt keine Luft, fühlt eine Druckwelle, eine Explosion, gerät in Panik, bewegt sich mühsam voran, blendet Geräusche aus, kämpft sich hinunter in die U-Bahn.
Flucht nach Südfrankreich
Angst, Panik – immer dann, wenn sie Männer mit Bärten sieht oder ein Gepäckstück, das verlassen herumsteht. Innerlich bittet sie jedes Mal um Verzeihung für einen furchtbaren Verdacht, den sie nie wieder gutmachen kann: Wieder mal hat sie einen Fremden für einen Mörder gehalten, für einen Attentäter. Wann immer sie in diese Situation gerät, entgleitet ihr auch die Sprache.
„In Paris konzentriere ich mich die ganze Zeit auf anderes, um nicht, es wird mir hier nicht, auf dem Weg nicht, es wird diesmal: Ich atme rechtzeitig tief ein und aus ...Wenn ich die Augen einen Moment über das Blinzeln hinaus schließe, sehe ich wieder einen, sehe ihn in die Luft gehen ... höre, sehe, wie einer ein Zeichen und dann etwas drückt, ein Zeichen macht ... und dann ist alles zerfetzt."
Auszeit auf dem Land
Noa ist Archäologin, sie setzt Dinge wieder zusammen, die zerbrochen sind. Jetzt ist sie selber dran – sie nimmt sich eine Auszeit, fährt zu einem deutschen Ehepaar nach Südfrankreich. Sie wird abgeholt von Ella, die mit Mann Gregor und Tochter Jade einen alten Hof bewirtschaftet, Schafe züchtet und Gemüse anbaut. Davon lebt die kleine Familie, und Noa wird ihnen als Freiwillige helfen. Es ist eine Flucht aufs Land, eine Flucht vor ihren Panikattacken in der Stadt, bei denen sie immer wieder Terroranschläge fantasiert. Auf dem Land will sie Ruhe finden, vielleicht sogar zu sich selbst. Aber auch auf dem Land ist inzwischen alles anders:
„Der Fluss unten machte ein trockenes Geräusch, ein Rascheln, ich hätte ihn nur sehen können, wenn ich mit gerecktem Kopf sehr nah an das Mäuerchen am Straßenrand herangefahren wäre, aber ich wußte auch so, dass es schon seit mehreren Wochen dringend hätte regnen müssen. Den Bäumen sah man den Mangel noch nicht an ..."
Auch Ella und Gregor sind mal hierher geflüchtet, als Aussteiger aus einer Wohlstandsgesellschaft, um das „eigentliche" Leben kennenzulernen, sich selbst zu versorgen, den Überfluss hinter sich zu lassen. Sie sind in Südfrankreich nicht die einzigen. Aber das eigentliche Leben, früher vielleicht Ackerbau und Schafzucht in einer idyllischen Landschaft mit gackernden Hühnern, fruchtbaren Böden und reichem Ertrag – dieses Leben gibt es hier nicht mehr. Der Klimawandel ist längst da, das Leben ist hart geworden.
Vertrauen finden
Noa lernt Schafe zu hüten, Lämmer mit der Flasche aufzuziehen, Zäune zu setzen, Äcker umzugraben, Gemüse anzubauen, zu ernten und einzukochen, Chutneys, die später auf dem Markt verkauft werden sollen. Aber sie sieht auch, wie mühsam es geworden ist in einer Landschaft, in der der Fluss immer weniger Wasser führt, der Boden austrocknet, weil es zu lange nicht geregnet hat, und das Wasser kaum aufnehmen kann, wenn plötzlich Sturzbäche vom Himmel fallen. Spaziergänge im Wald tun ihr gut, das Alleinsein und die vorsichtige Freundschaft mit der elfjährigen Jade. Eine Zuneigung ohne Bedingungen, ein gegenseitiges intuitves Verständnis, die Lust, gemeinsam Ausreißer zu spielen. Noa lernt wieder Vertrauen, auch zu Ella, dieser bodenständigen Frau, die nicht klagt, sondern energisch anpackt, Pläne macht für ein „Danach": Ferienwohnungen. Sie weiß von vielen Problemen, „wir sind eine Versehrtenstelle." Ihr kann sie es erzählen:
„Ich hatte auf der Straße Angst vor Anschlägen. Ich hab Leute verdächtigt ... Männer, die den Schülern in meinem Kurs oder Freunden von mir genauso ähnlich sahen wie irgendwelchen Terroristen in den Nachrichten ... und dass ich rassistische Gedanken nicht ungeschehen mache, indem ich sie selbst scheiße finde..."
Rückseite der Zivilisation
Irgendwann entscheidet sich Noa, bei der Transhumance mitzugehen, einem Almauftrieb, bei dem Hirten ihre Tiere über längere Zeit begleiten: „Hinaufziehen, die Berge hoch entlang der Grasnarbe, als wären wir Wetter. Vielleicht könnte ich mich tatsächlich zwischen ihnen auflösen oder in sie eingehen – wer vertraute sich hier wem an ..."
Mirjam Wittig beschreibt intensiv und sensibel, wie sehr irrationale Ängste ein Leben dominieren können, wie schwer es ist, dagegen zu steuern oder gar erklären zu wollen, was da gerade passiert in einem jungen Menschen. Sie erzählt wunderbar ruhig, poetisch und atmosphärisch, in genauen Dialogen, immer mit Blick auf Landschaft und Menschen, aber auch mit kritischen Beobachtungen über all' die vielen jungen Menschen früher und heute, die das „eigentliche Leben" suchen, die „Rückseite der Zivilisation, das richtige Leben, Ganz-weit-draußen" aber gar keine Vorstellung haben, was das sein könnte – weil sie das Alte mitschleppen und das Neue ganz anders aussieht, als die „Bilder, die wir davon haben".
Ein schöner, vielversprechender Debütroman.
(Christiane Schwalbe)
Mirjam Wittig, *1996, Studium Literarisches Schreiben und Lektorieren in Hildesheim, für ihren Debütroman An der Grasnarbe erhielt sie bereits einen Förderpreis.
Mirjam Wittig „An der Grasnarbe"
Roman, Suhrkamp 2022, 189 Seiten, 23 Euro
eBook 19,99 Euro