Natascha Wodin
Sie kam aus Mariupol
"Ich wusste nur, dass ich zu einer Art Menschenunrat gehörte, zu irgendeinem Kehricht, der vom Krieg übrig geblieben war.“ Natascha Wodins Eltern sind als Zwangsarbeiter aus der Ukraine nach Deutschland gekommen, in einem der mehr als 30.000 Lager knapp dem Tod entronnen.
Mensch ohne Wurzeln
Da sie bei Kriegsende fürchten müssen, vom deutschen direkt in den sowjetischen GULAG zurückgeschickt zu werden, bleiben sie in Fürth, Strandgut eines kriegerischen Infernos, das ihr Leben zutiefst gezeichnet hat. Mit nur sechsunddreißig Jahren bringt sich die Mutter, die niemals über ihre Herkunft sprach, um, und das Kind Natascha, damals zehn Jahre alt, vergisst sie und erfindet sich neu, "in einem Niemandsland“, in dem es sich als ein "herkunftsloses, wurzelloses Einzelwesen“ wahrnahm:
"Wahrscheinlich spüre ich schon damals, dass sie das Leben nicht mehr aushalten kann, dass sie ständig im Begriff ist, sich zu entfernen, mir zu entgleiten. Wahrscheinlich haben die Rollen sich schon zu jener Zeit umgekehrt, wahrscheinlich trage ich sie schon als Vierjährige auf meinen Schultern, in andauernder Angst, sie zu verlieren, einer Angst, mit der ich schon geboren bin.“
Chancenlos und verhasst
Im letzten Teil ihres mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2017 ausgezeichneten Buches kehrt Natascha Wodin in diese Kindheit am Rande der Nachkriegsgesellschaft zurück, in der die "Displaced Persons“ ausgeschlossen und chancenlos waren, und wenn sie als Russen galten, verhasst blieben. All die psychischen Verwundungen, die das Kind erlitt, werden auf diesem Weg sichtbar und auf schmerzlichste Weise spürbar, doch die Schriftstellerin Natascha Wodin kann ihn gehen, weil sie die Chance bekommt, das Schicksal ihrer Mutter im Rahmen der Gewaltgeschichte des letzten Jahrhunderts neu zu erfassen. Schwer genug dennoch, da sie zu Beginn so gut wie nichts vom Leben ihrer Mutter vor ihrer Geburt wusste.
"Ich stand mit leeren Händen da, hatte nur die Geschichtsschreibung und meine Phantasie, die den Abgründen des Themas nicht gewachsen war."
Am Anfang dieser Rekonstruktion ihrer Familiengeschichte steht ein Zufall: in einem genealogischen Forum stößt die Autorin auf die mütterliche Familie, die der adligen russisch-ukrainischen Oberschicht angehörte, auch italienische und baltendeutsche Wurzeln hatte und in Mariupol am Asowschen Meer ein angesehenes und sehr wohlhabendes Leben führte.
Panorama des Schreckens
Die "Black Box“ ihres Lebens öffnet sich, mit Hilfe vor allem eines leidenschaftlichen russischen Hobbygenealogen, und Natascha Wodin stößt auf Spuren: auf viele Verwandte, ihren bolschewistischen Großvater, auf die Geschwister ihrer Mutter Jewgenia Iosifowna Iwaschtschenko, den Bruder Sergej, der als Opernsänger in der Roten Armee diente, die zehn Jahre ältere Schwester Lidia, die Lehrerin wurde und später den GULAG überlebte. Sie entfaltet, vor allem mit Hilfe von Lidias wundersam wieder entdecktem Tagebuch, ein Panorama des Schreckens und der Zerstörung: Die Familie erlebte den Bürgerkrieg im nachrevolutionären Russland, in das ihre Mutter 1920 hineingeboren wird, in einer Stadt, die sechzehn Mal die Besitzer wechselt und Zerstörung und Plünderung über sich ergehen lässt, bis kaum mehr etwas von ihr übrig ist. Lidias Aufzeichnungen dokumentieren dies und ebenso den Terror Stalins in den dreißiger Jahren, der sie schließlich in ein Straflager bringt, und Natascha Wodin setzt dieser mutigen und eindrucksvollen Frau, ihrer Tante, ein großartiges literarisches Denkmal.
"Ich versuchte mir vorzustellen, wie lange man in der damaligen Zeit brauchte, um eine Strecke von zweitausenddreihundert Kilometern zurückzulegen. Wie viele Tage, wie viele Nächte war Lidia unterwegs gewesen ins Lager? Zum ersten Mal wurde mir die ganze Dimension der Entfernungen in diesem riesigen Imperium bewusst, das ganze Potential der Verlorenheit, das dieser gewaltige Raum besaß.“
Kollektiver Albtraum
Was ihre Mutter in diesen Jahren erlebte, kann man nur erahnen, wird doch die Zeit des Terrors in der Sowjetunion durch die Erinnerungen der Schwester in ihrem ganzen Ausmaß höchst lebendig. Die Autorin macht aus ihrem Abscheu vor dem russischen Fatum, dem "Nichtaufwachenkönnen aus einem kollektiven Albtraum“ keinen Hehl, doch ein Zurück in die sichere Distanz ist bei ihrer Spurensuche nicht mehr möglich. Bei aller Furcht, was sich in der Pandorabüchse ihrer Familiengeschichte noch finden wird, forscht sie weiter, beschreibt Lidias Rettung, die Zerstörung der Familie und schließlich den Leidensweg ihrer Mutter Jewgenia im Vernichtungskrieg nach der Besetzung der Ukraine, der sie in die Zwangsarbeit nach Deutschland führt. Historische Kenntnisse, private Recherche und schriftstellerische Phantasie verknüpfen sich dabei auf einzigartig dichte und sprachlich einfühlsame Weise. Je mehr Natascha Wodin erfährt, desto näher kommt sie dieser unbekannten schönen Frau, zart und zerbrechlich auf den wenigen erhaltenen Fotos:
"Eine kleine, in weiße Spitze gehüllte Prinzessin vom Stern der unheilbaren Traurigkeit…Schwer zu glauben, dass dieses durchsichtige, luzide Wesen dennoch sechsunddreißig Jahre gelebt hat, Jahre in einer Zeit, in der alles gegen sie war, von Anfang an auf ihre Vernichtung zielte.“
Außergewöhnlich und berührend
Was sie erlebte und stumm werden ließ, nahm die Mutter mit ins Grab. Ihre Tochter ist ihr, soweit es möglich war, ins Dunkel ihres schweren Lebens gefolgt. Sie hat all die Fragen gestellt, die notwendig waren, und aus den vorläufigen und bruchstückhaften Antworten ein außergewöhnliches, berührendes Buch gemacht. Dass sie die Überlebenden ihrer Familie, ihre tapfere Tante vor allem, nicht mehr selbst fragen konnte, weil sie nichts von ihnen wusste, gehört zu den bittersten Pointen ihrer Geschichte.
(Lore Kleinert)
Natascha Wodin, *1945 in Fürth/Bayern als Kind verschleppter sowjetischer Zwangsarbeiter, Dolmetscherin und Schriftstellerin, lebt in Berlin und Mecklenburg
Natascha Wodin "Sie kam aus Mariupol"
Roman, Rowohlt Verlag 2017, 368 Seiten, Hardcover 19,95 Euro
eBook 16,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Natascha Wodin
"Alter, fremdes Land"