Yael Inokai
Ein simpler Eingriff
Longlist Deutscher Buchpreis 2022
Wutausbrüche bei einem Mann sind in der Welt von Meret nichts Unbekanntes. Die kennt sie von ihrem gewalttätigen Vater, und zu den ungeschriebenen Regeln ihrer Familie gehört, dass man sich ihm unterzuordnen hat.
Neue Zukunft
Wutausbrüche einer Frau sind nicht so normal, die gehören in die Rubrik der psychischen Defekte. Auch solche Fälle kennt Meret: Sie ist Krankenschwester und darf dem Doktor bei Eingriffen im Gehirn assistieren. Sie liebt ihren Beruf und ist überzeugt von der heilsamen Wirkung seiner bislang kaum erprobten Methode. Rückblickend sieht sie das allerdings anders:
„Ich sehe mich wieder als junge Frau im Spiegel. Da ist Überzeugung in meinem Blick. Ungetrübt von Zweifeln ... Jene Eingriffe sollten Menschen von ihren psychischen Störungen befreien und sie in eine neue Zukunft entlassen, eine echte Zukunft, nicht nur eine fortwährende Existenz. Ich hing an dieser Hoffnung."
Wie ein krankes Tier
Meret lebt im Schwesternheim, sie teilt sich ihr Zimmer mit einer Mitbewohnerin. Die Tage laufen immer gleich ab, viel Privatleben gibt es nicht. Die Arbeit ist erschöpfend, die Uniform, die sie jeden Morgen anzieht, gibt ihr Sicherheit und Kraft. Die braucht sie für ihre vorwiegend weiblichen Patienten, die wach bleiben müssen, wenn die betroffenen Stellen im Gehirn „unschädlich gemacht" werden, „wie ein Kabel, das man kappt ... eingeschläfert wie ein krankes Tier”. Meret soll ihnen die Angst nehmen. Sie hat dafür eine blaue Schachtel:
„Sie war voll mit Gegenständen, die einen Menschen beschäftigt hielten: Bücher, Bilder, Rätsel, Kartenspiele, Streichhölzer, ein Daumenkino, eine kleine Ziehharmonika ... Ich hielt sie beschäftigt und nahm ihnen die Angst. Mitgefühl nannte ich das: Ich kann das gut, weil ich das Mitgefühl beherrsche."
Ein simpler Eingriff - scheinbar, wenn alles gut geht. Aber es geht nicht immer gut. Wie bei Marianne, Tochter einer wohlhabenden, angesehenen Familie. Ihre unberechenbaren Wutattacken sollen medizinisch beseitigt werden, doch Meret hat das diffuse Gefühl, dass die Familie wohl den gesellschaftliche Makel getilgt haben will. Der Eingriff geht schief, und Marianne verschwindet aus der Öffentlichkeit.
Männliche Macht
Als Marianne ihre Patientin und Sarah ihre neue Mitbewohnerin wird, gerät Merets bislang klar begrenztes und geregeltes Leben aus dem Gleichgewicht. Sie verliebt sich in Sarah, die - anders als Meret - zutiefst kritisch ist und sie in ihren Zweifeln am Sinn des Eingriffs bestärkt:
„Ich habe den Eindruck, dass diese Eingriffe Schaden anrichten. Ich bin nicht die Einzige. Ich habe gelesen, dass Menschen damit ruhiggestellt werden. Frauen vor allem. Dass man ihnen etwas von ihrem ... Ich nimmt. ... Ich glaube nicht alles, was jemand sagt, nur weil er über mir steht."
Mehr noch, Sarah kritisiert nicht nur die Fragwürdigkeit der Eingriffe, sondern auch die Macht der Männer und ihre ungeschriebenen Regeln, denen sich Meret unterordnet, um für den Doktor etwas Besonderes zu sein, anerkannt zu werden.
Akt der Befreiung
Yael Inokai verortet ihre Figuren weder zeitlich noch geografisch. Die Handlung bewegt sich vorwiegend zwischen Schwesternheim und Klinik, die Frauen bleiben nicht nur in diesem Raum gefangen, sondern auch in den patriarchalen Strukturen der (vermutlich) Nachkriegszeit. Die Liebe zwischen Frauen war damals ein absolutes Tabu, galt als krank. In diese Zeit fallen auch die chirurgischen Eingriffe der sogenannten Lobotomie, um psychische Defekte zu „heilen". Das mag ein Hintergrund für die Autorin gewesen sein, aber die Geschichten der drei Frauen, die sie zunehmend enger verknüpft, entfalten auch ganz ohne solche Einordnungen eine große erzählerische Kraft und enden in einem mutigen Akt erlösender Befreiung.
(Christiane Schwalbe)
Yael Inokai, *1989 in Basel, schweizer Schriftstellerin und Journalistin, lebt in Berlin
Yael Inokai „Ein simpler Eingriff"
Roman, Hanser Berlin 2022, 192 Seiten, 22 Euro
eBook 16,99 Euro, AudioCD 21,99 Euro