Antonia S. Byatt
Das Buch der Kinder
Südengland um 1895: Hier wie anderswo in Europa entwickeln die Menschen neue politische und künstlerische Ideen, neue Lebensentwürfe. Es ist die Zeit des Arts-and-Crafts-Movements, der Rückbesinnung auf die Gemeinsamkeit von Kunst, Kunsthandwerk und Leben. Es ist die Zeit der anarchistischen Experimente, der Reformkleider, der Formen und Farben des Jugendstils, der neuen Ideale von Natur, Natürlichkeit und freier Liebe; die Zeit der Anfänge der Frauenwahlrechtsbewegung.
Künstler und Sozialisten
Olive und Humphry Wellwood sind mit ihren Kindern Anhänger der Fabian Society, der englischen Variante eines gemäßigten Sozialismus. Olive ist erfolgreiche Autorin versponnener Zaubermärchenbücher, und sie schreibt für jedes ihrer Kinder an einer eigenen Phantasiegeschichte.
Man ist verwandt mit den eher konservativen Wellwoods aus der Londoner Finanzwelt, befreundet mit der Familie des genialen, aber schwierigen Keramikers Fludd, gut bekannt mit dem verwitweten Prosper Cain, dem Kustos des neuen Victoria & Albert-Museums in London, und dessen Kindern. Zu Mittsommer 1895 sind sie alle zu den Wellwoods in die kentischen Marschen eingeladen, zusammen mit Münchner Puppentheaterkünstlern und emigrierten russischen Anarchisten.
Lebensläufe im Spiegel des fin-de-siècle
Hier steht ein ganzes Zeitalter auf. In den Lebensläufen der Kinder dieser Familien spiegeln sich die politischen, sozialen, künstlerischen Entwicklungen um die Jahrhundertwende. Dorothy, Olives älteste Tochter, will studieren und Ärztin werden. Wie kann das gehen? Es gibt keine weiblichen Ärzte. Für Frauen ist Heiraten vorgesehen.
Ein paar der jungen Leute fahren nach Paris und besuchen die Weltausstellung. Tom, der Älteste und Mamas Liebling, sucht bei Wanderungen in den Wäldern und Marschen nach einem Lebensziel. Philip, ein Kind der Arbeiterklasse, wird vom Töpfer Fludd gefördert und findet sich in der Kunst. Sie alle probieren ihr Leben aus, ob in England, in München oder am Monte Verità in der Schweiz, bis 1914 der Krieg beginnt.
Verschwenderische Sprache
Liebe und Schönheit, Erfolg und Scheitern, Katastrophen und Neuaufbrüche: Die Britin Byatt erzählt sich in einen Rausch. Sie verquickt die Lebenslinien ihrer Figuren eng mit denen historischer Personen und Geschehnisse aus Politik, Literatur und Kunst. (Oscar Wilde hat z. B. einen kurzen Auftritt, als schlecht riechender Schatten seiner selbst.)
Sie zelebriert Üppigkeit, Sinnlichkeit, Farben, Formen, in ihrer unverwechselbaren, verschwenderischen Sprache. Ein fin-de-siècle-Panorama, das sich daran orientiert, was die Menschen denken und tun, welche Gedanken und Ideen sie bewegen.
Schrecken und Wunder
Der neue Roman von A.S. Byatt ("Besessen", "Stilleben", "Frauen, die pfeifen") präsentiert sich wie ein großes, geheimnisvolles Geschenk, aus dem man als LeserIn so viel Schönheit auspackt wie auch Schrecken und Wunder, die man bestaunt, genießt - oder bei denen einem das Herz stehen bleibt.
Das Buch der Kinder hat fast 900 üppige, sinnliche, verschwenderische, unverwechselbare Seiten ? und das Beste: keine Seite zu viel.
(Gabi von Alemann)
Antonia S. Byatt "Das Buch der Kinder"
Fischer Verlag 2011, 895 Seiten, 26,00 Euro, eBook 22,99 Euro