Valeria Luiselli
Archiv der verlorenen Kinder
Wie soll man das Leid von Kindern sichtbar machen, die auf der Flucht sind, es in Interviews abbilden, in Originaltönen und Geräuschen, ohne ihre Trauer und Verzweiflung auszubeuten, wie es die Medien immer wieder tun?
Kinder auf der Flucht
Valeria Luisellis namenlose Ich-Erzählerin ist Journalistin, ihr Mann eine Art dokumentarischer Klangkünstler. Die beiden haben sich bei der Arbeit an einem akustischen Porträt von New York kennengelernt. Nun will sie all' den Kindern eine Stimme geben, die auf der Flucht sind von Zentralamerika zu ihren Eltern in den USA. Vielleicht findet sie dabei die zwei vermissten Töchter einer Freundin.
"Ich stelle mir die vielen Kinder vor, die ohne Papiere in den Händen eines Schleppers Mexiko durchqueren, auf den Dächern von Zugwaggons, wo sie versuchen, nicht herunterzufallen, nicht in die Fänge der Einwanderungsbehörden oder von Drogenbossen zu geraten, die sie in den Mohnfeldern versklaven würden, sofern sie sie nicht umbringen."
Patchwork-Familie
Ihr Mann hat ein anderes, ebenso anspruchsvolles Ziel: Er will mit Tönen und Klängen die untergegangene Welt der Apachen in einem sogenannten Echo-Register dokumentieren. Die Road Novel beginnt mit dem "Familien-Soundscape" - von New York aus reist die Patchwork-Familie quer durch Amerika zur mexikanischen Grenze. Namenlos sind alle vier: Sein Sohn ist zehn, ihre Tochter fünf Jahre alt und heißen im Roman nur "der Junge" und "das Mädchen". Die beiden sitzen hinten, beobachten ihre Eltern, die viel mit sich selbst und ihren Projekten beschäftigt sind, auch mit gegenseitiger Entfremdung und der damit verbundenen Ehekrise, zwischendurch von der Kultur der Apachen erzählen, deren Spuren sie in Apacheria finden wollen, und immer wieder die Nachrichten über die Flüchtlingskinder an der Grenze verfolgen.
Recht auf Kindheit
Der Mann ist ziemlich schweigsam, die Frau dagegen reflektiert ihr Vorhaben in allen nur möglichen Varianten, u.a. mit der Lektüre der traurigen "Elegien für verlorene Kinder" einer Ella Camposanto, einer Fiktion der Autorin, in der sie "Anspielungen auf literarische Werke" verarbeitet, wie im Nachwort erläutert wird. Die Elegien erzählen ausführlich vom Leidensweg der Migrantenkinder, die zunehmend auch den Jungen interessieren.
"Erst jetzt fällt mir auf, dass der Junge und das Mädchen die Flüchtlingskinder immer als die 'verlorenen Kinder' bezeichnen. … In gewisser Weise sind sie das wohl auch. Sie sind Kinder, die das Recht auf eine Kindheit verloren haben."
Ihr Schicksal wird hautnah erlebbar, als die Familie an einem Privatflugplatz in Arizona vorbeikommt und Sohn und Mutter Zeugen einer Abschiebung werden:
"Sie gehen im Gänsemarsch und sehen aus, als hätten sie kapituliert. … Mehrere Officer marschieren neben den Kindern, als könnten sie versuchen zu fliehen."
Den verlorenen Kindern folgen
Eine Spurensuche, die sich zwischen Fiktion und Realität bewegt. Die unterschiedlichen Ebenen sind miteinander verwoben, ergänzen sich und verschwimmen komplett miteinander, als im zweiten Teil aus der Perspektive des Jungen erzählt wird, der eine Art Echo liefert für den ersten Teil, und den Plan fasst, mit der Schwester den verlorenen Kinder zu folgen. Er will selbst "verloren gehen", damit die Eltern ihnen wieder mehr Aufmerksamkeit schenken, nicht nur ihren Stimmen auf Tonband:
"Es war komisch, unsere Stimmen zu hören, als wären wir da und gleichzeitig nicht. Ich hatte das Gefühl, als wären wir verschwunden, dachte, was wäre, wenn wir gar nicht wirklich hier hinten sitzen, sondern nur in ihrer Erinnerung sind? … Die verlorenen Kinder waren für Ma viel lebendiger als wir… und mir war außerdem klar, was wir beide machen mussten, damit es uns als Familie wieder besser geht."
Formale Experimente
Diese unerwartete Wendung bildet sich auch erzählerisch und formal ab. Nach dem ersten, manchmal etwas langatmigen Teil, in dem die Autorin aus der Perspektive der Mutter erzählt, in Assoziationen und kleinen Episoden, Erleben und Gedanken vielfach dreht und wendet und aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, wird im zweiten Teil der Ton plötzlich dramatischer, direkter und nahezu beklemmend, als der Junge auf die bisherigen Erlebnisse aus eigener Sicht reagiert und in seiner Fantasie den Flüchtlingskindern folgt. Auch formal experimentiert Valeria Luiselli: Im Kofferraum stehen wohlgeordnet sieben Schachteln mit Archiv- und Arbeitsmaterial. Als Faksimile zu lesen ist, was der Junge beim Kramen in der Schachtel der Mutter gefunden hat - Zeitungsausschnitte, Totenscheine von Flüchtlingen, Statistiken, Bilder von Gegenständen, die auf der Migrantenroute in der Wüste eingesammelt wurden, Fotos, Bücher, Notizen.
Ungewöhnlich und bewegend
"Dies ist unsere Geschichte und die der verlorenen Kinder von Anfang bis zum Ende, und ich werde sie dir erzählen..." Zwei bislang behütete Kinder machen sich auf die Suche, wollen der Fluchtroute der vielen verlorenen Kinder folgen, die sie aus den Elegien kennen, und verlieren sich selbst - eine dramatische Zuspitzung. Es gibt ein anrührendes letztes Kapitel: Abgebildet sind die Polaroids aus Schachtel VII, die der Junge während der Reise mit den Eltern gemacht hat.
Ein formal und stilistisch ungewöhnlicher, manchmal sperriger, aber bewegender Roman - und ein politischer, der den aktuellen Flüchtlingsdramen an der amerikanisch-mexikanischen Grenze ein Gesicht gibt, vor allem mit Blick auf das Jahr 2014, als besonders viele unbegleitete Kinder auf der Flucht aufgegriffen und zurückgeschickt wurden. Valeria Luiselli kennt die Schicksale, sie hat ehrenamtlich als Dolmetscherin für Flüchtlingskinder in New York gearbeitet.
(Christiane Schwalbe)
Valeria Luiselli, *1983 in Mexiko City, schreibt Beiträge für Magazine und Zeitungen, Romane und Essays, lebt in New York
Valeria Luiselli "Archiv der verlorenen Kinder"
aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Jakobeit
Roman, Verlag Antje Kunstmann 2019, 432 Seiten, 25 Euro
eBook 19,99 Euro