Timothy Brook
Wie China nach Europa kam
Die unerhörte Karte des Mr. Selden
Seit 1659 lagert eine Landkarte im Keller der Bodleian Library in Oxford, Teil einer Sammlung des britischen Anwalts und Orientalisten John Selden, der sie im 17. Jahrhundert entdeckte und mitbrachte. Reich verziert, von Hand gemalt und mit vielen chinesischen Anmerkungen versehen, ist sie einzig in ihrer Art, denn ihr Fokus liegt auf dem südchinesischen Meer.
Viele Rätsel
Heute ist es wieder ins Zentrum chinesischer Interessen gerückt, die mit denen anderer Anrainer des Meeres durchaus kollidieren. Als der kanadische Sinologe und Historiker Timothy Brook beginnt, die vergessene Karte zu untersuchen, stößt er auf viele Rätsel - fest steht nur, die Karte
"… stellt jenen Teil der Welt dar, den die Chinesen seinerzeit kannten: vom indischen Ozean im Westen bis zu den Gewürzinseln im Osten und von Java im Süden bis zu Japan im Norden."
Kartografisches Meisterwerk
Doch welchem Zweck diente sie? Wer schuf dieses kartografische Meisterwerk? Was erzählt sie über die Beziehungen Chinas im 17. Jahrhundert, und wie verändern diese Erkenntnisse das britische und auch europäische Bild von der Geschichte? Brooks Bemühungen, den Weg der Karte nachzuverfolgen, führen zu einer sehr persönlichen Erforschung der Rätsel, die sich aus dieser Entdeckung ergeben. Wer die Karte zeichnete, ist zwar nicht mehr zu klären, doch dass er nautische Erfahrung besaß und mit den eingezeichneten Handelsrouten vertraut war, steht außer Frage.
Aufteilung der Meere
Wir lernen John Selden kennen, der die Karte mitbrachte, einen Juristen mit dem Wahlspruch "Above All, Liberty", der in den Debatten zwischen England und den Niederlanden um die Freiheit der Meere zum Gegenspieler von Hugo Grotius wurde und Englands Anspruch auf Aufteilung der Meere – im Gegensatz zu ihrer Offenheit für alle – vertrat. Während die Niederländer sich für den Freihandel einsetzten, war Selden tief in die Intrigen am britischen Hof verstrickt und machte sich für britische Rechtsansprüche stark, wohl auch, weil ihm die durch den Asienhandel ausgelösten Veränderungen Europas zu schnell gingen.
Kaufleute und Abenteurer
Die Welt zur Zeit Shakespeares war im Umbruch, und Brook schildert sie mit Sympathie für die Menschen, die zur Veränderung dieser Welt beitrugen: Der chinesische Jesuitenschüler Shen Fuzong, der die Karte mit klugen Anmerkungen versah, die Abenteurer und Kapitäne, Kaufleute und Händler, die den Austausch zwischen Ost und West im 17. Jahrhundert vorantrieben:
"Am Ende handelt dieses Buch nicht wirklich von einer Karte. Es handelt von den Menschen, deren Geschichten die Wege der Karte kreuzten."
Brook stellt fest, dass die Schiffahrtsrouten auf der Karte fast bis aufs blanke Papier abgewetzt sind, und er schließt aus den Zeichen, die ihre Vorbesitzer hinterließen, auf ihre Interessen und kommt zum Ergebnis, dass aus europäischer Warte viele Chancen, mit Asien und China im Besonderen in einen gleichberechtigten Austausch zu treten, vertan worden sind. Die verblüffende Genauigkeit der Routen lässt den Schluss zu, dass die Karte vom Meer aus konzipiert ist und nicht dazu diente, Hoheitsansprüche zu untermauern, sondern vor allem Handelsschiffen den Weg weisen sollte. Sie belegt das Interesse Chinas in der Zeit der Ming-Kaiser an Handelswegen und neuen Beziehungen, während die europäischen Mächte diese Bereitschaft zugunsten von imperialen Eroberungen ignorierten.
Labyrinth von Fragen
Indem der Wissenschaftler sich zwischen England und China, Wissenschaft und Kultur und zwischen den Zeiten kundig hin und her bewegt und die Leser in ein Labyrinth von Fragen lockt, eröffnet er in diesem herrlich ausgestatteten Buch ein Panorama globalen Handelns, das direkt mit der Gegenwart verknüpft ist und zu neuen Erkenntnissen verhilft:
"So merkwürdig es klingen mag, ein Buch reicht nicht aus, um alle Türen zu öffnen, die in den Details der Karte verborgen sind, ganz zu schweigen davon, alle Flure und Räume zu erkunden, die sich hinter diesen Türen auftun."
(Lore Kleinert)
Timothy Brook "Wie China nach Europa kam"
Die unerhörte Karte des Mr. Selden
Mit vielen Abbildungen
Aus dem Englischen von Robin Cackett
Wagenbach 2015, 224 Seiten, 24,90 Euro