Marco d'Eramo
Die Welt im Selfie
Eine Besichtigung des touristischen Zeitalters
Dieses Buch ist als Urlaubslektüre der besonderen Art zu empfehlen: Als Tourist unterwegs sein und dabei lesen, wie zerstörerisch der Tourismus heutzutage ist, weil wir zu oft und in Massen reisen.
Hart im Nehmen
"Rom: Im August treiben durch die menschenleeren Straßen nur Scharen erhitzter Touristen, vertieft in ihre anstrengende Pflicht: die Gesichter puterrot, Plastikflaschen in der Hand. Über allem weht ein Hauch von Verlassenheit …"
Kein Wunder, denn die Italiener haben Ferien und fliehen aus der Hitze der Stadt. Aber Touristen sind hart im Nehmen, wenn es darum geht, ein Selfie vor der antiken Kulisse des Kolosseums zu machen. Oder vor der Mona Lisa im Louvre, auf der chinesischen Mauer in Peking, auf dem Djemaa el-Fna in Marrakesch, vor der Shwedagon-Pagode in Myanmar oder dem Taj Mahal in Indien. Überall belagern Scharen von erinnerungsbesessenen Reisenden Unesco-Welterbe-Schätze, Smartphones und Tablets in der Hand und vor der Nase.
Mit dem Zeigestock
Marco d'Eramo weiß, wovon er spricht, denn er wohnt gleich neben dem Kolosseum, in einem Haus, in dem ein Drittel der Wohnungen in Touristenapartements oder B&B-Quartiere umgewandelt wurden. Der Tourismus vertreibt die ursprünglichen Bewohner – entweder, weil sie selbst Geld damit verdienen oder weil es ihnen zu laut und zu unruhig geworden ist. Der Autor legt eine ziemlich bedrückende "Besichtigung des touristischen Zeitalters" vor, die Wertung überlässt er anderen, z.B. dem englischen Geistlichen Robert Kilvert:
"Wenn mir etwas ganz besonders zuwider ist, dann, wenn man gesagt bekommt, was man bewundern soll, und mit dem Zeigestock darauf gestoßen wird. So ist von allen Schädlingen der Tourist der schädlichste."
Aus der sogenannten "Grand Tour", der Bildungsreise für Adlige im 18. Jahrhundert, einer Pflichtübung, ist ein zunehmend zwiespältiges Vergnügen für alle geworden. Begonnen hat es mit der Revolution des Verkehrs- und Kommunikationswesens im 19. Jahrhundert, mit Eisenbahn und Dampfschiffen und mit der Telegrafie. Das Internet schafft neue Reisemärkte, mit Autos, Billigfliegern und Kreuzfahrtschiffen erreicht man auch die entferntesten Ziele dieser Welt – die Folgen für Straßen, Luft und Meere sind bekannt. Und alle, die gern reisen, wissen das auch.
Hunger nach Welt
d'Eramo bestärkt diffuses Unbehagen durch Zahlen und Fakten, differenzierte Analysen und historische Erkenntnisse, beschreibt die Entwicklung des Reisens zur "wichtigsten Industrie des Jahrhunderts" und füttert uns mit reichlich Literatur. Dieser Industrie sind viele andere Industrien und Märkte gefolgt: u.a. die der Reiseführer, der Souvenirproduktion, der Skilifte, Ferienapartements und Luxushotels. Nicht zu vergessen die Restaurants – es gibt sie längst, die sogenannten kulinarischen oder Gastro-Reisen:
"Hunger nach Welt: Den Hunger sollte man dabei auch wörtlich nehmen … Man besucht ein Land nicht nur, um seine Baudenkmäler zu besuchen, seine Städte zu durchstreifen, seine Landschaften zu bewundern, an seinen Stränden zu baden, sondern auch, um seine 'Spezialitäten' zu kosten, die 'typische Küche' zu probieren."
Was früher heilig war
Tourismus ist eine Art Pflichtübung geworden und hat dafür gesorgt, das schwimmende Hotels mit bis zu 6000 Gästen über die Weltmeere kreuzen, an ihren Küsten saisonale Städte für Badegäste entstanden sind, Bettenburgen, meist nur im Sommer bevölkert, im Winter tot und verlassen. Tourismus und Profit gehen Hand in Hand, kommerzialisiert werden auch die Stätten alter Kulturen, die früheren Völkern heilig waren.
Am bemerkenswertesten ist die Entwicklung der Tourismusindustrie, der "Schwerindustrie" unserer Zeit, wie d'Eramo an anderer Stelle sagt, in Las Vegas zu betrachten. Denn
"wo die Industrie andernorts bereits bestehende Siedlungen 'touristisiert' und disneylandisiert hat, wurde hier mitten in der Mojave-Wüste eine Touristenstadt am grünen Tisch neu geschaffen, zu dem ausschließlichen Zweck, Besucher zu empfangen und zu verführen."
Die menschliche Neugier ist unersättlich und – natürlich – Reisen bildet auch. Aber bringen uns all die Nebenwirkungen dazu, weniger und bewusster zu reisen? Oder gar im eigenen Land zu bleiben? Vereinzelt vielleicht, aber die Touristenhorden werden bleiben. Abhilfe können wohl nur die Tourismusregionen selbst schaffen – durch Verbote und Reglementierungen, wie bereits in Barcelona, auf Mallorca oder in Venedig.
(Christiane Schwalbe)
Marco d’Eramo, *1947, italienischer Journalist, lebt in Rom
Marco d'Eramo "Die Welt im Selfie"
Eine Besichtigung des touristischen Zeitalters
"Il selfie del mondo" übersetzt aus dem Italienischen von Martina Kempter
Suhrkamp 2018, 362 Seiten, 26 Euro
eBook 21,99 Euro