Gila Lustiger
Erschütterung. Über den Terror
Lesung und Gespräch mit Gila Lustiger am 7. Juni 2016 in Düsseldorf (Stadttor)
Erschütterung – mit diesem tiefgreifenden Gefühl, das Wut, Hilflosigkeit und Ratlosigkeit einschließt, begibt sich die deutsche Schriftstellerin Gila Lustiger auf Spurensuche, will herausfinden, wo die Ursachen liegen, die junge Menschen zu den Terrorakten getrieben haben, die Frankreich und die ganze Welt erschütterten: Charlie Hebdo und der 13. November 2015.
Nachhaltig bedroht
Die Werte der demokratischen Zivilgesellschaft sind nachhaltig bedroht, nicht nur in Frankreich sind die Menschen verunsichert und haben Angst vor weiteren Anschlägen. Auch davor, dass die Verantwortlichen weiterhin falsch reagieren, weil technokratisches vor politischem Verständnis steht.
Straße der Demütigung
Lustigers Beobachtungen beginnen in den Banlieues von Paris, in den 2005 von schweren Krawallen erschütterten Vororten, in die trotz ständiger staatlicher Maßnahmen und Programme nicht wirklich Ruhe einkehrt, weil Armut und Arbeitslosigkeit die Hoffnungen der Einwanderer zerstören und ihre Kinder keine wirkliche Perspektiven haben. Kulturelle Identität kann hier nicht wachsen. Die Prachtstraße von Paris, die Champs Elysee, hassen sie. Eine soziologische Umfrage, so Lustiger, ergab auf die Frage, wo sie sich am meisten gedemütigt gefühlt haben, 'auf den Champs Elysees'.
"Wenn man aus einer Plattenbausiedlung kommt mit 50 Prozent Arbeitslosigkeit, wo die meisten unterhalb der Armutsgrenze leben, dann empfindet man eine solche Straße als Demütigung."
Motive der Gewalt
Neben der sachlichen Analyse steht in diesem Buch immer wieder die persönliche Betroffenheit Lustigers im Mittelpunkt, der innere Druck, von morgens bis abends Radio zu hören, Bücher zu lesen, Zeitungen zu studieren, im Netz zu recherchieren, um alles nur Mögliche einzubeziehen in diese Suche nach den menschenverachtenden Motiven der Gewalt, nach den Ursprüngen der Radikalisierung junger Migranten.
"Keiner wusste besser als ich, wie falsch es war, sich von dieser Informationsflut mitreißen zu lassen, schließlich hatte ich in Israel gelebt, einem Land, in dem Attentate zum Alltag gehören. Dort erklären Psychologen, dass solche Informationen nie der Kommunikation dienten, kein Wissen vertieften, keine Erkenntnis lieferten, ja, dass eine Überfülle an Meldungen die Angst nicht mindere, ganz im Gegenteil, sie schüre sie nur und lasse die Menschen in Passivität versinken."
Aktive Integration
Genau das tut Gila Lustiger nicht, sie analysiert Fakten und lotet psychologische Hintergründe aus. Sie stellt vor allem Fragen, und wenn sie Antworten findet, dann sind sie in keiner Weise allgemeingültig oder gar übertragbar. Der als Jüdin ohnehin zutiefst sensibilisierten Autorin, die seit 30 Jahren in Paris lebt, geht es in diesem Essay darum, Bewusstsein zu schaffen, aufmerksam zu machen, sich auszutauschen, hinzuschauen. Erziehung – das könnte eine Lösung sein, aber Erziehung bedeutet aktive Integration auf der einen, Akzeptanz, Wertschätzung und Respekt auf der anderen Seite. "Terror", schreibt Lustiger, "ist die extremste Form der Integrationsverweigerung".
(Christiane Schwalbe)
Gila Lustiger *1963 in Frankfurt/Main, Germanistik-Studium in Jerusalem, deutsche Schriftstellerin, lebt in Paris.
Gila Lustiger "Erschütterung"
Über den Terror
Berlinverlag, 160 Seiten, 16 Euro
eBook 11,99 Euro