Chloe Dalton
Hase und ich
Die Geschichte einer außergewöhnlichen Begegnung
„Ein glücklicher Hase verbringt seinen Tag damit, in der Sonne zu liegen, sich herumzuwälzen, zu ruhen, zu dösen und zu träumen, den Augenblick zu genießen…Das ruhige, aufgeräumte Dasein des Hasen stellte meine Prioritäten infrage und erweckte meine Sinne.“
Trockenmilch und Haferflocken
Bis zu dieser Erkenntnis ist der Weg weit, denn zu Beginn stehen die Chancen für das winzige Hasenkind schlecht, das sich auf dem grasbewachsenen Mittelstreifen eines schmalen Feldwegs verbirgt. Doch nachdem sie es entdeckt hat, kehrt die Spaziergängerin Stunden später zurück und nimmt das Tier mit nach Haus. Mit angerührter Trockenmilch und Haferflocken beginnt die Geschichte seines Überlebens, und die Autorin Chloe Dalton zieht alle nur möglichen Quellen zu Rate, um dem fremden Lebewesen näher zu kommen. William Cowpers „Epitaph on a Hare“ vor 250 Jahren etwa gab Ratschläge zur Ernährung, aber Hase, wie sie den Kleinen nennt, entwickelt einen höchst eigenständigen Geschmack, zieht Himbeeren reifen Erdbeeren vor, und seine Vorliebe für Haferflocken verlor er nie; ‚sie‘ muss es besser heißen, denn irgendwann entpuppt sich Hase als weiblich – und wird sogar Mutter weiterer Würfe, die sie ihrem Menschen nicht vorenthält.
„Es schien sie nicht weiter zu stören, dass ich in dem Zimmer, in dem ihre Jungen lagen, ein und aus ging. So überschritten wir eine weitere Schwelle in unserer Beziehung zwischen Mensch und Tier: Was sie genau von mir hielt, weiß ich nicht, doch sie ließ mich vertrauensvoll in die Nähe ihrer Jungen.“
Das wunderbarste Tier auf Erden
Der Weg dorthin ist durchaus lang, und die Journalistin und Politikexpertin Chloe Dalton schildert ihn mit Empathie, gebotener Zurückhaltung und sorgfältiger Recherche, in poetischer Sprache, die stets die Balance zwischen Begeisterung über die Begegnung mit dem Fremden und dem Respekt vor dem kaum Begreiflichen hält. Während des Lockdowns hatte sie mehr Muße als in der Stadt, weil sie sich in der Landschaft ihrer Kindheit zurückgezogen hatte und Abstand vom stressigen Politikbetrieb einlegte.
„Hase brachte mir Geduld bei. Sie lehrte mich – eine Frau, die ihren Lebensunterhalt mit Worten verdient -, die Würde und Überzeugungskraft der Stille zu schätzen. Sie zeigte mir ein anderes Leben, mit all den Reichtümern darin.“
Man erfährt viel über die Ordnung der Hasenartigen, zu der neben den Hasen auch Kaninchen zählen, Tiere, die sich an ganz unterschiedliche Lebensräume anpassen können, von Mooren über Wüsten bis zur arktischen Tundra. Erstaunlich, dass der „Master of the Game“, königlicher Oberjäger Edward of Norwich schon 1406 festhielt:
„Eh ich schildre, wie die Jagd des Hasen zu erfolgen hat, ist klarzustellen, dass er der König unter dem Wild ist…gewiss das wunderbarste Tier auf Erden.“
Die Bewunderung teilt die Autorin, deren Hase mitsamt ihren Nachkommen ihr Haus und ihren Garten als Rückzugs- und Schutzort erobert, nie eingesperrt ist und, wohl auch deshalb, immer wieder zurückkehrt, eine besondere, ganz und gar eigenständige Gefährtin, die dennoch nie zum Haustier wurde.
Ohne Worte
Doch auch die Autorin verändert sich, indem sie das Tier in ihr Leben lässt: Ihre Beobachtungsgabe für die Natur wird schärfer und genauer, ihr Interesse daran fokussierter. Entscheidender vielleicht jedoch und sehr anrührend sind ihre Beobachtungen ihrer selbst: wie sie sich verändert, indem sie dem Leben des Hasen in ihrem eigenen Dasein Raum gibt und zugleich Distanz wahrt.
„Während gut gemeinte Ratschläge von Freunden stets an mir abgeperlt sind, bearbeitete der kleine Hase meinen Charakter still und ohne Worte: Er löste einen Teil der nervösen Spannungen und der Rastlosigkeit, die sich in mir angesammelt hatten, weil ich ständig unterwegs gewesen war und immer auf Abruf für andere bereitgestanden hatte.“
Denise Nestors Illustrationen ergänzen dieses schöne Buch, das auch den Raubbau an der Natur nicht ausspart. Dass wir alle Teile der Natur sind und sie als verzeihend und tröstend erleben können, ist eine der wichtigen Erkenntnisse dieser außergewöhnlichen Begegnung.
(Lore Kleinert)
Chloe Dalton, britische Autorin und politische Beraterin für Außenpolitik, war über ein Jahrzehnt lang im britischen Parlament tätig, lebt abwechselnd in London und auf dem Land.
Chloe Dalton „Hase und ich“
Die Geschichte einer außergewöhnlichen Begegnung
aus dem Englischen von Claudia Amor
Erzählungen, Klett-Cotta 2025, 304 Seiten, 22 Euro
eBook 17,99 Euro