Maxim Biller
Der unsterbliche Weil
„Weißt du, was ich denke, Julius? Nur wer Macht über andere Menschen hat, der wird zu Stein. Das ist so, dafür kann man nichts.“ Zu dieser Überlegung kommt der Schriftsteller Jiří Weil erst gegen Ende seines Weges durch seine Stadt Prag, ein Weg, der zur inneren Reise durch die Schrecken eines ganzen Lebens wird.
Überleben
An einem kalten, sonnigen Tag im April 1956 imaginiert er in einem Zwiegespräch die Stimme seines toten Freundes Julius Fučik, bis er schließlich dem steinernen Heldenstandbild dieses von den Nazis ermordeten Kommunisten gegenübersteht, dessen Schweigen ihn kaum überrascht. Vielleicht sei er ja selbst aus Stein, mutmaßt er, denn wie hätte er sonst die Jahre der Naziherrschaft über die Tschechoslowakei durchstehen können - nur als Totgeglaubtem gelang ihm, dem Juden, nach einem vorgetäuschten Selbstmord das Überleben.
„…Aus Stein muss man sein, am besten sogar aus Granit, Julius, nicht war, dann fühlt man nie die eigenen und schon gar nicht fremde Schmerzen.“
Doch ohne das Empfinden fremder und eigener Schmerzen hätte er seine Geschichten niemals schreiben können. In der Stalin-Zeit war Weil wegen einer kritischen Reportage über Moskauer Verhältnisse in Ungnade gefallen und hatte nur dank Fučiks Intervention knapp überlebt. Nach dem Krieg schrieb er zwei herausragende Romane über die alptraumhaften Jahre im besetzten Prag. „Leben mit dem Stern“ wurde nach dem Krieg von den Kommunisten, seit 1948 an der Macht, als Dokument „kleinbürgerlicher Hundemoral“ verboten, und während er durch die Stadt streift, grübelt Weil über die Wechselfälle seines Lebens, über Verrat und Gehorsam, Schwäche und Hoffnung nach.
Unsterblichkeit
Schreiben will er, nichts anderes, und sicher nicht zufällig hat Maxim Biller seinen Schwur, nach dem Einmarsch der Russen in die Ukraine keine literarischen Texte mehr schreiben zu wollen, diesem Mann mit dem „traurigen Igelgesicht“ zuliebe gebrochen und setzt ihm in seiner Novelle ein Denkmal der Unsterblichkeit. Ihm, der bereits todkrank ist und nicht mehr lange leben wird, diesem Mann, der auf seine Rettung durch den erfundenen Suizid nicht einmal besonders stolz war, der auf die Erlaubnis der Partei hofft, wieder schreiben zu dürfen, der, „so wie man Rechtshänder oder Linkshänder ist“, ein Schriftsteller ist und nichts anderes.
„Ich wurde schon immer zu Recht dafür bestraft, dass ich nicht so zuversichtlich sein konnte wie die anderen.“
Aber Zuversicht ist nicht der Stoff, der ihn am Leben hält, und Marlene Knoblochs kluges Nachwort zu Billers Novelle beschreibt, warum Weil in der Literatur nicht „das große Glück“ sucht, nicht den Ruhm, sondern einfach nicht anders kann, als seine Wahrheit in Worte zu fassen, in Literatur, die trägt, wenn sonst nichts mehr hält. Frei von Pathos spürt Maxim Biller dieser Wahrheit nach, begleitet von den schönen, melancholischen Prag-Fotografien des Autors, indem er die Erschütterungen in Jiří Weils Leben auf seinem Weg durch die gemeinsame Heimatstadt nachwirken lässt, in glasklare Sprache fasst und so, wie schon in seinem Buch „Im Kopf von Bruno Schulz“ von 2013, einen fast Vergessenen zum Leben erweckt.
(Lore Kleinert)
Maxim Biller, *1960 in Prag, aufgewachsen in Westdeutschland, vielfach ausgezeichneteter deutscher Schriftsteller und Kolumnist, lebt in Berlin
Maxim Biller „Der unsterbliche Weil"
Novelle, mit zwölf Fotografien des Autors und einem Nachwort von Marlene Knobloch
ausschließlich über Edition 5plus erhältlich, 75 Seiten, 18,80 Euro
Auf der Backlist des Wagenbach-Verlags sind Weils Romane „Leben mit dem Stern“ und „Mendelssohn auf dem Dach“ zu finden. „Im Kopf von Bruno Schulz“ ist 2013 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.