Lizzie Doron
Wir spielen Alltag
Leben in Israel seit dem 7. Oktober
Lizzie Doron hat ein Tagebuch geschrieben, „ein Erinnerungsdokument, vielleicht ein Testament. ... Ein Genesisdokument: Am Anfang war ein Alarm, und in der Folge geriet alles aus den Fugen." Es ist ein Schreiben „ohne die Ruhe, die es braucht, um zu schreiben."
Ein Horrorfilm
Am Morgen des 7. Oktober reißt ihr Mann Dani sie um 6:29 Uhr unsanft aus dem Schlaf:
„Wach auf! ... Im ganzen Land ist Luftalarm! ... Es ist Krieg." Sie rennen in den Schutzraum, schalten den kleinen Fernseher ein, hören WhatsApp-Nachrichten, verlesen von einem Moderator. Und verstehen nichts. Realiseren nur langsam, was passiert. Der Überfall der Hamas auf das Nova-Festival, das Massaker im Kibbuz Be'eri:
„In Tel Aviv heulen die Luftschutzsirenen in einem fort. Wir laufen in den Schutzraum und kommen wieder heraus, wie ferngesteuert, mit steifem, verspannten Körper laufen wir, Entsetzen im Blick. Was soll das werden? Was passiert hier? Wir starren in den Fernseher, Stunde um Stunde, und verfolgen einen Horrorfilm."
Ihre Tochter macht sich auf den Weg nach Hause, von Eilat durch die Wüste, non stop – zwei Mütter und drei Kinder. Nicht wissend, wann sie ankommen. Ob sie ankommen. Eine Mail mit Verfügungen wird abgeschickt. Dazwischen Nachrichten von Freunden und Bekannten - über Social Media, Radio und Fernsehen, aber der Schrecken nimmt kein Ende. Nach fünf Tagen verordnet sich Lizzie Doron eine Nachrichtenpause und beteiligt sich an einem Erinnerungsprojekt, das den Opfern des Massakers gewidmet ist. Oft sind es nur wenige Informationen, aus denen Nachrufe entstehen. Sie schreibt mehr als vierzig: „Mit jedem Namen kam auch ein Meer von Geschichten."
Nur Fragen
Es sind Beobachtungen, Gedanken, Erinnerungen und Begegnungen, die Lizzie Doron aufschreibt, unsortiert, oft emotional, manchmal nur Bruchstücke. Man spürt die Anspannung, die Angst und die Fassungslosigkeit mit der die Menschen reagieren. Auch das Telefonat mit einem palästinensischen Freund gehört dazu. Lizzie Doron setzt sich seit langem für die Versöhnung von Israelis und Palästinensern ein, darüber hat sie geschrieben, dafür ist sie in Israel kritisiert worden. Sie ruft Muhammad an, den sie seit langem kennt. Aber sie kommt nicht ins Gespräch mit ihm. Eine schmerzhafte Erfahrung:
Na los, er soll endlich sagen, dass er schockiert ist, dass er beschämt ist, nach allem, was passiert ist. ... Ich warte auf eine Antwort."
Die kommt erst nach dem Beginn der Bodenoffensive in Gaza - als zorniger Vorwurf an die Israelis, die „Gaza bombardieren, plattmachen, zermalmen." Dann bricht der Kontakt ganz ab.
In der Hölle
Sie geht auf den Platz der Geiseln in Tel Aviv, beobachtet Schüler und – vor allem – Touristen, denen der Bruder eines Entführten aufgebracht zuruft:
„Die Bilder der Geiseln, die wir hier aufgehängt haben, sind schon verblichen. Einige von ihnen sind schon nicht mehr am Leben, und dieser Ort hier ist zu einem Museum, ist zur Touristenattraktion geworden ... Ich bin jeden Tag hier und schreie, damit ihr nach Jerusalem zieht und euch mit der Regierung anlegt, damit ihr die Welt auf den Kopf stellt und irgendwas unternehmt, bis sie nach Hause zurückkehren. Sie sind in der Hölle. Bitte, rettet sie!"
Lizzie Doron ist die Tochter einer Holocaust-Überlebenden und in diesen Tagen des Horrors denkt sie oft daran:
„Eines Nachts fragte ich mich laut, wie meine Mutter bloß mit all' ihren Toten gelebt hatte. Und Dani, der neben mir lag und die Frage gehört hatte, sagte: „Wie sie damit gelebt hat? Sie ist verrückt geworden."
Es sind berührende, eindringliche, schockierende Geschichten, die Lizzie Doron erzählt – über ein Leben an der Schmerzgrenze. Da ist die traditionelle Trauerfeier im Foyer ihres Hochhauses – für den Soldaten Boris, der in Gaza getötet wurde. Oder Boaz, der Kaufinteressent für ihre Wohnung, er kommt aus Be'eri und sucht eine 5-Zimmer-Wohnung - ein Zimmer für die Tochter, die getötet wurde. „Auf der Türschwelle schaut er mich an: 'Hatte ich ihnen gesagt, dass sie auch die Hunde umgebracht haben?'"
Kein Alltag, sondern Ausnahmezustand – abgebildet auf gerade mal 160 Seiten. Ein Buch, das unter die Haut geht:
„Ich wollte, dass unsere Realität erzählt wird, dass man die Dringlichkeit spürt, die Wut, die Frustration, die Verzweiflung – und die Sehnsucht nach Normalität, das tiefe Bedürfnis nach Hoffnung und danach, endlich wieder Mitleid zu empfinden, endlich wieder lieben zu können."
(Christiane Schwalbe)
Lizzie Doron, *1953 in Tel Aviv, israelische Autorin von Romanen, lebt in Tel Aviv und Berlin
Lizzie Doron "Wir spielen Alltag"
Leben in Israel seit dem 7. Oktober
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
dtv 2025, 160 Seiten, 22 Euro
eBook 18,99 Euro