Der Literatur-Kalender 2022
Momente der Erinnerung – Texte und Bilder aus der Weltliteratur
Momente der Erinnerung führen zurück in die Kindheit oder an einen festlich gedeckten Tisch, an einen romantischen Sehnsuchtsort, eine große Liebe, auf eine unvergessliche Reise, in ein exotisches Land oder in die ferne Heimat, die man verlassen musste.
Bekanntschaft mit der Welt
Es sind kostbare Mosaiksteine des Lebens, die sich auf einem Foto, in einer Melodie, an einem bestimmten Ort und selbst im Kleiderschrank einen festen Platz gesucht haben. Wie bei Victoria Ocampo, einer einflussreichen argentinischen Intellektuellen, die sich in ihrer „Autobiografia” an Kleider erinnert, „als ob sie mich an manchen Tagen beschützt, gestärkt und beruhigt hätten.” Auch daran, dass man sich in jener Zeit noch fein machte für den Abend und dadurch in eine feierliche Stimmung versetzt wurde.
Simone de Beauvoir, die „Tochter aus gutem Hause” kroch als kleines Kind
„in die Höhlung unter dem Schreibtisch und hockte dort, in Finsternis gehüllt. Es war da dunkel, es war warm ... Ich schaute, tastete und machte in warmer Geborgenheit Bekanntschaft mit der Welt”.
Die Kindheit ist ein weites Feld der Erinnerung, auch für die noch lebende libanesische Autorin, Philosophin und Malerin Etel Adnan, die zwischen den zwei Kulturen ihrer Eltern pendelte – geboren in Beirut als Tochter einer griechischen Christin und eines muslimischen Syrers. Glücklich war sie in Damaskus, der Heimat ihres Vaters:
„In Beirut gab es Verwirrung und Alltag, in Damaskus Zauber und Feiern. In Beirut war ich eine kleine Christin; in Damaskus befand ich mich an der Schwelle zur islamischen Welt.”
Alles vergessen
Aber Momente der Erinnerung sind nicht nur schön oder glücklich, sie können quälend und Angst einflößend sei – wie für Andrzej Szczypiorski, der 1944 ein Jahr im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert war:
„Eigentlich erinnere ich mich nicht! Die Jahre verwischen die Erinnerung an Einzelheiten, man bewahrt in der Erinnerung eine Geste, einen Geruch, eine Farbe, aber keine Bilderfolge. Die Erinnerung an Sachsenhausen ist seit langem nicht mehr in mir gegenwärtig. Ich könnte nicht leben, wäre sie ständig gegenwärtig.”
Anders Ruth Klüger, die mit ihrer Mutter das KZ überlebte und in die USA emigrierte. Eine Tante riet ihr:
„Was in Deutschland passiert ist, mußt du aus deinem Gedächtnis streichen und einen neuen Anfang machen. Du mußt alles vergessen, was dir in Europa geschehen ist. Wegwischen wie mit einem Schwamm, wie die Kreide von einer Tafel. ... Ich dachte, sie will mir das einzige nehmen, was ich hab', nämlich mein Leben, das schon gelebte.”
Ba Jin, einer der wichtigsten chinesischen Autoren, erinnert an das Arbeitslager zur Umerziehung Intellektueller während Maos Kulturrevolution, Günther de Bruyn feiert die Freiheit nach Öffnung der Mauer im November 1989, indem er die Stätten seiner Kindheit aufsucht und dabei ständig „gegen das Gefühl des Unwirklichen anzukämpfen” hatte, und Joyce Johnson, ein junger Literat im Amerika der 1950er Jahre, erinnert sich in einem Londoner Jazzclub an Jack Kerouac, mit dem er einst auf Miles Davis' letzten Auftritt in einer anderen Jazzkneipe gewartet hatte.
Bester Longseller
Heitere, melancholische, nachdenkliche und traurige Momente, kenntnisreich ausgewählt, mit schönen Fotos lebendig illustriert und durch biografische Notizen ergänzt - es sind Erinnerungen berühmter und weniger bekannter AutorInnen, die neugierig machen. Mit Katherine Anne Porter spazieren wir durch das mit Krempel vollgestopfte Farmhaus ihrer Großmutter, darunter eine riesige weiße Henne mit rotem Kamm für die Frühstückseier. Und Marcel Proust zaubert den Geschmack einer Madelaine auf die Zunge, die seine Tante in schwarzen oder Lindenblütentee tauchte, ehe sie hineinbiß. Ein vielfältig anregender Begleiter durch das kommende Jahr also, ausgezeichnet als „Bester Longseller” mit dem Kalenderpreis des Deutschen Buchhandels.
(Christiane Schwalbe)
Der Literatur-Kalender 2022
Momente der Erinnerung – Texte und Bilder aus der Weltliteratur
Hrsg. von Elisabeth Raabe, gestaltet von Max Bartholl
edition momente 2021, 60 Blatt, 53 Fotos, farbig, 22 Euro