Gisela von Wysocki
Der hingestreckte Sommer
„Die Wörter erlauben mir, bis auf Sichtweite ans Leben heranzukommen. Dafür lasse ich mir etwas für sie einfallen. Ihren Drang, aus Warteräumen hervorgezogen zu werden, nutze ich aus.“
Ruhelose Wörter
Gisela von Wysocki nutzt die Kraft der Wörter, um die Dinge zu verwandeln: Wenn Nähe unerträglich wird, können sie überschrieben werden, „freigeschaltet für einen neuen Code“, um einen neuen, anderen Stoff zu erschaffen. Ein Bücherschrank könne für ein Kind zu einem Fabelwesen werden, schreibt die Autorin, und in 49 Prosaminiaturen erkundet sie Beobachtungen, Erfahrungen, Begegnungen und lässt Fremdheit hineinsickern. Was dabei entsteht, sind Zwischenräume, die sich vor vergröbertem Zugriff verschließen können, und doch laden sie dazu ein, sich auf Abwege zu begeben, verschütteten Gefühlsspuren zu folgen, sich den ‚ruhelosen Wörtern‘ auszuliefern, wie eine der vier Rubriken überschrieben ist. ‚Vitrinen‘, ‚Menschen und Blitze‘ und ‚Écrit d’après la Nature‘ ordnen die Miniaturen ebenfalls, sind aber Rätselwörter, mit denen die Autorin ihrem Sprachkaleidoskop immer neue Drehungen und Blickwinkel zugesteht.
Risse in der Erinnerung
Ähnlich wie in ihrem Band „Wir machen Musik“ nutzt Gisela von Wysocki Kindheit und Familie, um die Erinnerungen schärfer zu stellen, wohl wissend, dass es nur für blitzartige Momente möglich sein kann. Die Großmutter aus Breslau etwa hatte sie lange unter „triste Unauffälligkeit“ abgehakt, denn sie war ihr unzugänglich geblieben. Ein altes Foto, das sie milde und wunderschön zeigt, wirft Fragen auf und die Risse in der Erinnerung werden deutlicher:
„Sie machte auf mich den Eindruck, einer Geisterwelt entsprungen zu sein. Urvertraut in den Umrissen, aber versetzt in ein „Außerhalb“. Ein Grundriss ihrer selbst. Ein Zitat.“
Sätze wie diese, Wysockis genaue und kunstvolle Sprache, erlösen das Gedächtnis aus den Vitrinen, in denen es sich abgespeichert hat und eröffnen neue, poetische Räume, erschlossen aus Fragmenten und Fundstücken. 1981 legte sie mit ihrer Essaysammlung „Die Fröste der Freiheit“ eines der wichtigsten Bücher der neuen Frauenbewegung vor. Intellektuelle Begegnungen, etwa mit Friederike Mayröcker, sowie Porträts der in Auschwitz ermordeten Malerin Charlotte Salomon oder der dort ebenfalls getöteten Kinderbuchautorin Else Ury knüpfen an diese Auseinandersetzung mit weiblicher Produktivität an.
Erinnerungsräume
In der Neuveröffentlichung 2000 nahm sie das Gespräch über die Kinoleidenschaft ihrer Mutter nicht mehr auf, doch der unerwartete Fund des ungekürzten Textes der Erstveröffentlichung konfrontiert sie mit Erinnerungsräumen, die sie vor 20 Jahren nicht hatte sehen wollen – und können.
„Wie sie ihr unter die Haut gehen, die Kaltblütigen, die gnadenlos Rabiaten, die Verwegenen. Und mit ihnen ihre belebende Subtilität. Gesichtet, verstanden. Die Mutter vertraut ihnen mehr als dem charakterfesten Formgefühl der verehelichten Dame. Weil Anderssein, so, wie es sich in den stummen Bildern aufrührerisch zeigt, mehr hergibt. Und zulässt.“
Das Kino als Ort der „Erfahrung, die woanders nicht zu haben ist“, nicht einmal in der Literatur, wird kenntlicher in dem, was es ausmacht, dem Untertauchen in einer Realität, die auf ihre Weise das gelebte Leben aussticht. Das kindliche Ich der frühen fünfziger Jahre konnte eine Mutter, die auf dem Absprung war und darauf aus, ihre Tagträume ins Endlose zu verlängern, nicht annehmen. Und wenn die Autorin jetzt, viel später, erkennt, wie sehr die Mutter auch auf die „Existenzkrisen des Landes“ reagierte, kann sie das fremde Leben zum Drehbuch erklären und eine elegante Form für alten Schmerz finden. Zauberhaft sind also vor allem die Unstimmigkeiten, und Wysocki spürt dem nach, was sich im Leben, und nicht nur in ihrem eigenen, als unverzichtbar und unausweichlich zeigt, wenn auch nur für kurze Sekunden. „Alles dies lebt, hat seine Wirklichkeit, greift über auf uns, die wir nach Worten suchen.“
(Lore Kleinert)
Gisela von Wysocki, *1940 in Berlin, Essayistin, Theater- und Hörspielautorin, Literaturkritikerin, Musikwissenschaft, vielfach ausgezeichnete Autorin lebt in Berlin
Gisela von Wysocki „Der hingestreckte Sommer“
Suhrkamp Verlag 2021, 255 Seiten, 24 Euro
eBook 20,99 Euro