Leïla Slimani
Der Duft der Blumen bei Nacht
Allein im Museum, eine ganze Nacht lang eingesperrt, Bilder, die man ohne Menschenmenge ungestört betrachten kann – Leïla Slimani geht auf das verlockende Angebot ihrer Lektorin ein und findet in dieser Nacht einen neuen Zugang zu ihrer Geschichte und zu ihrem Vater.
Spiel mit dem Schweigen
Im eindrucksvollen dreieckigen Gebäude der Punta della Dogana, früher eine Zollstation, wird sie ganz allein eine Nacht verbringen, in
„dem legendären venezianischen Baudenkmal, das man in ein Museum für moderne Kunst verwandelt hat. In Wahrheit lässt mich die Aussicht, inmitten von Kunstwerken zu schlafen, gleichgültig."
Zeitgenössische Kunst ist so gar nicht ihr Thema, gereizt hat sie vor allem die Vorstellung, „eingeschlossen zu werden". Schon vor ihrem Museumsabenteuer denkt sie in ihrer „Höhle”, ihrem mit Büchern, Zeitungsausschnitten, Merkzetteln und Notizen vollgestopften Büro, viel darüber nach, wie es wohl sein würde, sich zurückzuziehen, sich zu völligem Schweigen zu zwingen, stumm zu bleiben und sich ganz und gar dem Schreiben zu widmen.
„Das, was wir nicht sagen, gehört uns für immer. Schreiben heißt, mit dem Schweigen zu spielen."
Duft der Erinnerung
Ihr Feldbett steht in einem Raum mit Fotografien, von hier aus beginnt sie ihren Rundgang, mit einer Broschüre in der Hand und barfuß, weil die Schuhe ein unangenehmes Geräusch machen, um einzutauchen in die Betrachtung von Kunstwerken, in denen es um die Beziehung des Menschen zur Natur geht – Konzeptkunst. Und während sie noch rätselt, was wohl Kunst sei an einem Luftballon, der den Atem von zwei Künstlern enthält - als Metapher für das Vergehen der Zeit - entdeckt sie eine außergewöhnliche Installation:
„Durch die getönten Scheiben dieser gigantischen Terrarien erkennt man die Zweige und Blätter des Nachtjasmins ... In Marokko kommt er häufig vor und wird von Dichtern und allen Liebenden besungen. Seine Besonderheit ist, dass er den stärksten Duft des Pflanzenreichs verströmt ..."
Slimani erinnert sich an einen solchen Strauch in Rabat. Der Nachtjasmin oder arabische Moschus wuchs neben ihrem Haus und duftete betörend nur in der Nacht. Und plötzlich werden Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend wach und den Zorn über das Verbot, allein nach draußen zu gehen.
„Mädchen hatten nichts zu suchen auf Straßen, Plätzen und in den Cafés, deren Terrassen, das weiß ich noch, ausschließlich von Männern besetzt waren. .... Der Nachtjasmin ist der Duft meiner Lügen, meiner Jugendlieben, heimlich gerauchter Zigaretten und verbotener Feste. Es ist das Aroma der Freiheit."
Aber er duftet nur bei Dunkelheit, also nicht in dieser Nacht im Museum, dort wird er künstlich beleuchtet.
Die Macht der Männer
Der Nachtjasmin erinnert sie auch an den Vater, einen marokkanischen Bankdirektor und Politiker, der wegen eines Finanzskandals für vier Monate ins Gefängnis musste und erst Jahre später rehabilitiert wurde. "Obwohl er mein Vater war, war er mir nicht vertraut". Sie reflektiert ihre distanzierte Beziehung zu diesem Mann, der nach seiner Freilassung von einem inneren Leben sprach:
„Er gab mir zu verstehen, dass etwas von ihm, in ihm, standgehalten hatte. Dass es in jedem von uns einen Ort gab, den die anderen weder erreichen noch entweihen konnten. Einen Abgrund, in dem Freiheit möglich war. ... Nach dem Tod meines Vaters begann ich, wie besessen zu schreiben. Ich erfand Welten, in denen Unrecht wiedergutgemacht wurde ...
Im Schreiben entdeckt sie, weit entfernt von der Heimat, ihre Identität und ihre Bestimmung, "die Freiheit, so zu leben, wie ich will."
Elitäre Räume
Leïla Slimani lässt uns den Duft des Nachtjasmins erahnen, wenn wir sie durch das Museum begleiten, sie lässt uns teilhaben an ihrer Skepsis über die Exponate der Künstler, die sie aber nicht infrage stellt - eher sich selbst und ihr Unvermögen, mit diesen Räumen etwas anzufangen:
„Das Museum bleibt für mich ein Ausdruck westlicher Kultur, ein elitärer Raum, dessen Codes ich noch immer nicht erfasst habe."
Sie thematisiert die "Zerrissenheit zwischen ganz verschiedenen Traditionen und Geschichten", den Spagat zwischen persönlichem Freiheitsdrang und den einengenden Traditionen ihrer Kultur. Berührend und offen schildert sie ihre Selbstzweifel und die Trauer, dem Vater vielleicht nicht gerecht geworden zu sein.
Ein Buch voller Assoziationen und Erinnerungen, verknüpft mit realen Beobachtungen, philosophischen Gedanken und literarischen Zitaten. Dabei reflektiert sie immer wieder ihr eigenes Schreiben, diesen mühsamen Prozess der Stille und Einsamkeit – ungemein dicht und klar in der Sprache, empathisch, klug und poetisch. Ein faszinierendes Buch.
(Christiane Schwalbe)
Leila Slimani, *1981 in Rabat, in Marokko aufgewachsen, Studium an der Pariser Elite-Uni Sciences Po. Ihr Roman „Das Land der Anderen”, erster Band einer Trilogie, war wochenlang die Nr. 1 auf den Bestsellerlisten in Frankreich, der zweite Band "Schaut, wie wir tanzen" erscheint im Herbst 2022 auf deutsch bei Luchterhand.
Leïla Slimani „Der Duft der Blumen bei Nacht"
aus dem Französischen von Amelie Thoma
Luchterhand Literaturverlag 2022, 160 Seiten, 20 Euro
ebook 15.99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Leila Slimani
Schaut, wie wir tanzen