Leïla Slimani
Schaut, wie wir tanzen
Amine Belhaj ist Marokkaner, der im 2. Weltkrieg für die Franzosen kämpft, Mathilde ist Elsässerin. Am Ende des Krieges lernen sie sich kennen, heiraten und gehen nach Marokko, wo Amine die Farm seines Vaters bewirtschaften wird. Zwei Menschen, zwei Länder, zwei Kulturen.
Wohlstand und Ansehen
Mathilde tut sich lange schwer mit der fremden Kultur. Der Zitrangenbaum, dessen Früchte ungenießbar sind, wurde für die gemeinsame Tochter Aïcha gepflanzt – er ist ein Symbol:
"Wir sind wie dein Baum, halb Zitrone, halb Orange. Wir gehören zu keiner Seite."
Der Baum muss einem Swimmingpool weichen, gegen den sich Amine lange wehrt – erfolglos. Der Pool ist ein Zeichen von Wohlstand, denn der einstige „Kameltreiber" und „Kanake" hat es mit dem Anbau von Zitrusfrüchten und Oliven nicht nur zu Geld, sondern auch zu gesellschaftlichem Ansehen gebracht - ein beachtlicher sozialer Aufstieg, den die einstigen Kolonialherren sehr genau registrieren und ihn umwerben:
„Wenn die Mitglieder des Rotary Clubs sich um Amine bemühten, sich derart wohlwollend und aufmerksam zeigten, so lag dies auch daran, dass er Marokkaner war und der Club durch die Aufnahme eines Arabers beweisen wollte, dass die Zeit der Kolonisierung, die Zeit des Nebeneinanderher-Lebens vorbei war."
Patriarchale Gesellschaft
Marokko ist seit 1956 unabhängig und wird von König Hassan II. regiert, der eine Agrarreform verspricht, aber nicht einlöst. Die Kolonialzeit steckt allen noch in den Knochen, allerdings schlüpfen aufstrebende Marokkaner zunehmend in die Rolle der Franzosen: „ ... es war schwer zu glauben, dass sie jemals zu unterschiedlichen Lagern gehört und sich als Feinde betrachtet hatten."
Vom Reichtum des Vaters profitiert auch Aïcha, die Ende der 1960er Jahre in Straßburg Medizin studiert. Hier fühlt sie sich fremd wegen ihres Aussehens und ist für die zunehmend politisch agierenden Studenten doch eine Art Ideal:
„Frau aus der Dritten Welt, eine Bauerntochter, eine Nordafrikanerin mit krausem Haar und olivfarbener Haut ... sie war die wandelnde Revolution.” Als Ärztin nach Hause zurückgekehrt, fühlt sich Aicha auch in Marokko fremd, denn in der patriarchalen arabischen Gesellschaft ist eine Frau in diesem Beruf höchst ungewöhnlich. Und die jungen intellektuellen Männer, die von den Unis kommen?
„Sie behaupten, sie wären nicht wie ihre Väter und würden sich für die Emanzipation einsetzen. Aber ich wette, sobald sie verheiratet sind, verlangen sie von ihren Frauen, ihre Diplome wegzupacken und sich schön brav um den Haushalt zu kümmern."
Mekka der Hippiebewegung
Moderner scheint da „Karl Marx" zu denken, ein Student aus ärmlichen Verhältnissen, in den sich Aïcha verliebt: Aber am Reichtum des Vaters nimmt er Anstoß: „Ihr lebt wie Europäer, ihr seid reich. Man muss nicht unbedingt ein Kolonist sein, um die Leute wie Eingeborene zu behandeln.”
Das Aufbegehren der Studenten 1968 in der westlichen Welt kommt auch in Marokko an – Hippies haben Essaouria als ihr Paradies auserkoren, um hier ihre Träume eines von gesellschaftlichen Zwängen befreiten Lebens in der Kommune umzusetzen – freie Liebe, Drogen und Alkohol, Blumenketten, Bärte und lange Haare. Davon ist auch Selim fasziniert. Der Sohn von Amine und Mathilde schließt sich den Hippies an. Weniger zielstrebig als seine Schwester, fühlte er sich zuhause ausgegrenzt und in der chaotischen Hippiewelt akzeptiert.
Folklore für Touristen
Es ist eine junge, aufstrebende Generation, die Leïla Slimani in den Mittelpunkt dieses zweiten Teils ihrer Trilogie stellt. Sie folgt dem Wunsch, die Gesellschaft zu verändern, ohne auf die modernen Einflüsse aus dem Westen zu verzichten - die einen mit Parties, die anderen mit politischem Aktivismus. Nicht nur Aïcha und „Karl Marx” repräsentieren diese Bewegung, die Autorin (er)findet zahlreiche andere Personen, Schicksale und oft tragische Geschichten, um den Spagat zwischen Kolonisation und autoritärer Herrschaft des Königs zu illustrieren, von der bitteren Armut des Volkes zu erzählen und von der Notwendigkeit, die eigene Kultur zu bewahren und zu modernisieren. Dazu gehört vor allem die Emanzipation der Frauen, die nicht mehr bereit sind, sich den Männern und ihren veralteten Vorstellungen unterzuordnen. Sie gehen ihren eigenen Weg. Die „Rückkehr zu Traditionen, die nichts anderes als Folklore für Touristen sind" ist keine Lösung für die jungen Intellektuellen, die Unabhängigkeit fordern. Während die einen nur Tanz und Vergnügen suchen, fordern die anderen politisches Bewusstsein und Bildung für die Millionen Analphabeten in Marokko, statt sie zu Sklaven der neuen Herren zu machen: „Wir sind hier, um dem Land Marokko unser Wissen zur Verfügung zu stellen und ihm bei der Ausbildung seiner zukünftigen Elite zu helfen, die die Führung des Landes übernehmen wird."
Angelehnt an die Geschichte ihrer eigenen Familie zeichnet Slimani eindrucksvoll und spannend das Bild eines im Umbruch befindlichen Landes, dessen korrupte Strukturen Veränderungen verhindern und in dem erst zwei Putschversuche den König dazu bringen, so etwas wie eine Landreform in Gang zu setzen. Zeitgeschichte, großartig geschrieben und eingebettet in ein schillerndes Familienepos. Man wartet gespannt auf den dritten Teil, versteht "Schaut, wir wir tanzen" dank eines ausführlichen Personenverzeichnisses auch ohne Kenntnis des ersten Bandes, "Das Land der anderen".
(Christiane Schwalbe)
Leïla Slimani, *1981 in Rabat, Marokko, dort aufgewachsen, Studium an der Pariser Eliteuniversität Sciences Po, Autorin internationaler Bestseller
Leïla Slimani "Schaut, wie wir tanzen" (Band 2)
aus dem Französischen übersetzt von Amelie Thoma
Roman, Luchterhand Verlag 2022, 384 Seiten, 22 Euro
eBook 19,99 Euro
(Band 1: "Das Land der anderen")
Weiterer Buchtipp zu Leila Slimani
Der Duft der Blumen bei Nacht