Emmanuelle Fournier-Lorentz
Villa Royale
Manchmal brechen sie mitten in der Nacht auf – Charles ist mit 14 der älteste, Victor ist acht und Palma, die Ich-Erzählerin, ist elf Jahre alt. Ihr Mutter reisst sie aus dem Schlaf, wahllos werden ein paar Koffer gepackt und los geht es.
Wie die Wale
Los geht es ins Nirgendwo, zunächst raus aus Paris, dann auf die Insel Martinique, wieder zurück nach Frankreich, kreuz und quer durch die Provinz, wieder nach Paris, wo alles begann:
„Wir zogen immer in der kalten Jahreszeit um, wie die Wale, meinte Victor. In unsere Mäntel gehüllt saßen wir im seltsamen Geruch der Autoheizung, meine Mutter und Charles vorne, Victor und ich auf der Rückbank, die Stirn an die Scheibe gelehnt. Falls wir Geld hatten, kamen die Möbel im Lastwagen nach – und falls nicht, hatten wir eben keine Möbel."
Es sind meist heruntergekommene Häuser und Wohnungen, in denen sie dann ein paar Wochen oder Monate leben, wenn die Mutter einen Job gefunden hat. In der Schule sind sie die Außenseiter, Freunde zu suchen lohnt sich nicht, sie sind sowieso bald wieder „... unterwegs in eine neue Stadt , auf der Suche nach nichts, schon gar nicht nach Glück." Das es ohne den Vater ohnehin nicht mehr geben kann. Das rastlose Umziehen begann nach seinem Tod, genauer: nach seinem Selbstmord. Seitdem wird geschwiegen über ihn.
Immer auf der Flucht
Im Auto erzählen sich Charles und die Mutter ganz leise Geschichten von ihm,
„als ob die Abgeschlossenheit des Autos und das unerbittliche Dröhnen der Autobahn die Melancholie erlaubten, die meine Brüder und ich sonst sorgfältig vermieden, denn dieses Gefühl konnte einen von der Dachkante auf den Bordstein stoßen."
Was für eine Kindheit - ohne Sicherheit und Geborgenheit, ohne Rückzugsmöglichkeit, immer auf der Hut, immer fehlt Geld, oft gibt es kein Telefon oder es wird abgestellt, wie der Strom, weil die Rechnungen nicht bezahlt sind. Aber die Autorin erzählt diese Fluchtgeschichten nicht dramatisch oder gar vorwurfsvoll - weil man mit Kindern so nicht umgehen darf, weil sie verwahrlosen könnten, weil sie psychische Schäden erleiden würden. Diese Kinder sind auch verstört, aber nicht unbedingt zu bemitleiden, denn sie entwickeln ihre ganz speziellen Techniken, um mit der Situation klarzukommen. Sie schaffen sich Ventile für all' die Traurigkeit, die sie nicht leben können, aber auch für ihren Zorn, weil ihnen die Mutter ein normales Leben verweigert. Sie müssen schnell erwachsen werden, sich aufeinander verlassen können und irgendwie auch noch die Mutter beschützen:
„Mit meinen elf Jahren hatte ich schon niemanden mehr, der mich irgendwo hielt. Damals war ich noch fest davon überzeugt, dass es auf der Welt genug Menschen gab und wir diejenigen, die wir ein paar Monate lang gekannt hatten, einfach wieder vergessen konnten ...Und wie einen mit einem Gummiband an einem Holzschläger befestigten Ball zieht es uns immer wieder zurück in unsere Kindheit, sind wir Gefangene unserer ersten Male und unserer Traumata, weil wir in diesen Momenten die stärksten Gefühle empfunden haben, so stark, dass ich noch heute ihre Farben sehe."
Einziger Halt in diesen unruhigen Zeiten ist die Großmutter, bei der sie immer wieder stranden, sie aber auch ebenso oft wieder verlassen. Und dann wird sie auch noch dement.
Zwischen Wut und Trauer
Die Autorin erzählt in einem leichtem, manchmal verschwörerischem Ton, der diese durchaus tragische Geschichte aufregend, berührend und außergewöhnlich macht. Denn diese Familie ist ganz sicher „nicht normal", wie Charles immer wieder betont. Ihre Geschichte endet auch nicht „normal", denn irgendwann entdecken die Kinder den Grund für die ständige Flucht und versuchen, ihn wie richtige Erwachsene aus dem Weg zu räumen. Ein Roman voller Witz und Situationskomik, der von Trauer und Wut, Schmerz und Hoffnung, Kindheit und Erwachsenwerden kraftvoll und optimistisch erzählt.
«Hinter unseren fluchtartigen Umzügen verbarg sich ein ganz einfaches, klares Bedürfnis: dem Tod ausweichen. Dem Schicksal ein Schnippchen schlagen, nie irgendwo richtig ankommen, damit sich bloss nichts von dem, was geschehen war, wiederholte.»
(Christiane Schwalbe)
Emmanuelle Fournier-Lorentz, *1989 in Tours/Frankreich, Journalistin, lebt seit 2012 in Lausanne
Emmanuelle Fournier-Lorentz "Villa Royale"
aus dem Französischen von Sula Textor
Roman, Dörlemann-Verlag 2023, 288 Seiten, 25 Euro
eBook 18,99 Euro