Anne Berest
Die Postkarte
Ephraim, Emma, Noémie, Jacques, vier Familienmitglieder, die in Auschwitz ermordet wurden. Wer schickte Lélia, der Mutter der Autorin 2003 eine anonyme Postkarte mit ihren Vornamen? Sie hatte, zunächst erfolglos, begonnen nachzuforschen.
Gefährliche Welt
Knapp zwanzig Jahre später setzt sich Anne Berest auf die Spur dieses Rätsels und führt durch ein Jahrhundert Familiengeschichte, von der Flucht der Rabinovitchs aus Russland über Riga, Palästina und Polen bis nach Paris.
„In jenen Zwanzigerjahren scheinen die Straßen von Lód´z wie dem vorigen Jahrhundert entsprungen oder aber einem alten Buch mit seltsamen Geschichten, einer Welt, in der es von wunderbaren und furchterregenden Figuren nur so wimmelt, einer gefährlichen Welt…“
Jedenfalls in der Phantasie der kleinen Myriam, der ältesten Tochter der Rabinovitchs. Als sie mit fünf Jahren mit ihren Eltern und Geschwistern zu den Großeltern nach Palästina zog, ahnte sie nicht, dass es fünf Jahre später zurück nach Europa ging, wo ihr Vater auf den Erfolg seiner Erfindungen hoffte: nach Paris.
„Wir werden gehen müssen. Wieder weggehen. So ist es nun einmal. Myriam kennt das schon. Sie weiß, wenn man nicht leiden will, darf man nur weitergehen und sich nie, nie, nie umdrehen.“
Hier hofften sie auf ein gutes Leben, das mit der deutschen Besetzung Frankreichs 1940 in der Katastrophe endete. Myriam, die Großmutter der Autorin, überlebte als einzige und hinterließ die Last eines betäubenden Schweigens.
Versunkene Welt
Ihre Geschichte, die der Flucht und ihrer Ehe mit Vicente Picabia, dem unkonventionellen Sohn des Malers Francis Picabia, erzählt Anne Berests Buch mit derselben Akribie wie auch ihre Jahre in der Resistance. Lélia, ihre Mutter und Myriams Tochter, die ihr bei der Recherche in jeder Weise half, erkennt bald, dass niemand mehr genau sagen kann, wie die Menschen zu Lebzeiten wirklich waren.
„Myriam hat die meisten ihrer Geheimnisse für sich behalten. Aber man wird da, wo Myriam aufgehört hat, weitermachen müssen. Es fortschreiben.“
Und das genau nehmen die beiden Nachgeborenen auf sich, mit Hilfe von Graphologen und Detektiven und mit großer Zähigkeit. Die Postkarte mit den Namen der Toten wird zum Wegweiser, und auch das Schicksal der jüngeren Geschwister Myriams, Noémie und Jacques, die ebenso wie ihre Eltern in Auschwitz ermordet wurden, wird berührend nahegebracht, gerade so nah, wie es der schriftstellerischen Phantasie der Verfasserin angemessen erscheint: Eine Frau sucht nach den Wurzeln eines Familiengeheimnisses und findet eine ganze versunkene Welt: viele Schicksale, viel Schmerz.
Heftige Bedrohung
Für Anne Berest und ihre Mutter Lélia ist ihre Suche zugleich Auslöser für eine intime Reflexion über ihre eigene Identität und den Einfluss der Vergangenheit.
„Ich war das Kind von Eltern, die 1968 zwanzig Jahre alt waren und für die das eine große Rolle spielte. Das war meine Religion“, denn die Mythen ihrer Kultur und Kindheit entstammten dem laizistischen und republikanischen Sozialismus, der den Träumen ihrer Urgroßeltern, Ephraim und Emma, durchaus ähnelte. Wie sehr der Umstand, Jüdin zu sein, dennoch die Wahrnehmung des offenen und latenten Antisemitismus schärft, wird im Laufe ihrer Recherche immer deutlicher.
„Ich habe, eingeschrieben in meine Zellen, die Erfahrung einer derart heftigen Bedrohung, dass es mir manchmal vorkommt, als hätte ich sie wirklich erlebt oder müsste sie noch einmal erleben. Der Tod scheint mir stets gegenwärtig.“
Zugleich wird begreiflich, wie sich eine mörderische Ideologie mitten in Europa durchsetzen konnte. Welche Fragen ihre Auswirkungen auf unsere Gegenwart aufwerfen, wird durch die kunstvolle, oft in Dialogen gipfelnde Erzählstruktur höchst lebendig. Auch die Erkenntnisse der Traumaforschung zieht Anne Berest heran, um den nicht verarbeiteten Wunden im Familien-Stammbaum näher zu kommen:
„Von diesen Stellen aus werden Pfeile in die zukünftigen Generationen geschossen. Was nicht gelöst werden konnte, muss wiederholt werden und einen anderen treffen, ein Ziel, das eine oder mehrere Generationen entfernt ist“.
Zerstörte Familie
Anne Berests Roman erkundet die zahlreichen Schicksale in einer zerstörten Familie über fünf Generationen, voller Spannung, mit tragischen Irrtümern, verschwiegenen Geheimnissen und großer Liebe. Während die Bruchstücke der Vergangenheit mit Sorgfalt und Sensibilität ineinander gefügt werden, entfaltet sich so ein Panorama gelebten und erlittenen Lebens, das die Opfer aus dem Nichts des Vergessens holt. Und Heilung für die Lebenden verspricht.
(Lore Kleinert)
Anne Berest, *1979 in Paris, Schauspielerin, Regisseurin und Herausgeberin einer Theaterzeitschrift, seit 2010 Autorin mehrerer Romane
Anne Berest „Die Postkarte“
aus dem Französischen von Amelie Thoma und Michaela Meßner
Roman, Berlin Verlag 2023, 544 Seiten, 28 Euro
eBook 19,99 Euro, 2 AudioCDs 28 Euro