Isabelle Autissier
Acqua Alta
Millionen Touristen kommen jedes Jahr nach Venedig, in die Stadt, die auf Holzpfählen im Lehm gebaut ist und langsam zu versinken droht, weil das Gleichgewicht zwischen Lagune und Meer empfindlich gestört ist. Acqua Alta, das winterliche Hochwasser, schwebt seit Jahrzehnten wie ein Damoklesschwert über der Stadt.
Gigantische Flutwelle
Als Guido Malegatti, Wirtschaftsrat der Stadtrepublik Venedig, von seinen Verletzungen genesen ist und mit einer Barkasse auf der Suche nach Frau und Tochter durch die Lagune fährt, ist Venedig nur noch eine Trümmerlandschaft im Wasser.
„Die Mauern Hunderte Jahre alter Paläste sind nur mehr bescheidene Backsteingebäude ... durch die klaffenden Öffnungen erblickt er Bruchstücke von Decken, von Fresken und kaputte Möbel ... Mancherorts haben Gasexplosionen ganze Stockwerke zertrümmert und zusammen mit Kurzschlüssen anschließend Brände ausgelöst, deren Trümmer und rußige Holzbalken im Dunst aussehen, als würden sie noch immer qualmen."
Eine gigantische Flutwelle hat im Jahr 2021 die Stadt zerstört, der Albtraum ist wahr geworden. Er hätte verhindert werden können. Isabelle Autissier entwirft ein Horrorszenario, das sich ankündigte: Drei Wochen Regen und ein starker Sturm, der bereits vor den Küsten Siziliens verheerende Schäden angerichtet hat. Dazu das übliche Hochwasser und Neumond. Die Vorzeichen blieben unbeachtet, im Vertrauen auf das gigantische Projekt M.O.S.E., ein Sturmflutsperrwerk mit beweglichen Fluttoren – ein Milliardenprojekt. Hatte es nicht funktioniert, war Sabotage im Spiel? Wer nicht rechtzeitig evakuiert werden konnte, ist ertrunken oder wurde erschlagen. Das gilt auch für Malegattis Frau Alba.
„Die Trümmer wegzuschaffen und so viele Menschen wie möglich daraus zu befreien, war äußerst schwierig inmitten all des Wassers, des Schlamms und der wackeligen Häuser, von denen noch tagelang manche einstürzten. Ein Teil der menschlichen Überreste wurde in den Kühlräumen in Mestre gesammelt und nach Fundorten sortiert, um sie möglichst zuordnen zu können, aber viele wurden versehentlich durcheinandergebracht."
Labiles Gleichgewicht
Isabelle Autissier hat detailliert recherchiert und verknüpft die Katastrophe mit einer Familiengeschichte. Lea, Malegattis Tochter, demonstriert regelmäßig für „Venedig statt Veniceland", sie liegt im Dauerstreit mit ihrem Vater. Kaum ist sie volljährig, schließt sie sich einer aktivistischen Bewegung an. Ihr Vater kennt die Fakten, aufgeschrieben in einem wissenschaftlichen Gutachten genau des Professors, mit dem Lea ein Verhältnis anfängt. Das ist ein wenig konstruiert, schafft aber angesichts der vielen Fakten, die die Autorin in diesem Roman, der fast ein Sachbuch ist, unterbringt, eine menschliche Seite und zudem die Möglichkeit, den fiktiven Untergang Venedigs aus drei Perspektiven zu betrachen: Guido Malegatti als karriereorientierter, letztlich srupelloser, weil wissender Macher, der aus einfachen Verhältnissen kommt, seine Frau Alba, aus alter, adliger Familie stammend, mit der Sehnsucht nach Venedig, wie es einmal war – stolz, prachtvoll und so majestätisch wie seine Paläste. Und schließlich Lea, die politisierte junge Frau, die gegen die Ozeanriesen demonstriert, wenn sie von Schleppern in die Lagune gezogen werden:
„... ein stählerner Eisberg von dreihundert Metern Länge und mit vierzehn Stockwerken, der deutlich die Kuppeln der höchsten Kirchen überragt und das übrige Stadtbild auslöscht. Die Einfahrt der Schiffe ruft immer eine Mischung aus Angst und Faszination hervor ... 'Ihr seid hier nicht willkommen', 'Ihr zerstört Venedig' ..."
Zwischen Land und Meer
Was alles zur Katastrophe geführt hat, erzählt die Autorin im Rückblick - auf die Jahrzehnte der Nachlässigkeit, der politischen Profilierungssucht, der Korruption und Profitgier. Über allem die Maxime, noch mehr Touristen nach Venedig zu locken, um den Profit zu steigern und damit die (touristische) Weiterentwicklung von Mestre und Marghera auf dem Festland voranzutreiben. Was die Ozeanriesen jahrelang anrichteten, wurde verdrängt. Genauso wie die ökologischen Folgen von Klimawandel und Massentourismus für das labile Gleichgewicht dieser Stadt, abhängig vom Wechselspiel zwischen Lagune und offenem Meer, seit Jahrhunderten beobachtet:
„Es sind vor allem die Wasserströme, auf die sich die Stadt gründet. Die Mischung aus Salzwasser, das aus dem Meer kommt, und Süßwasser, das vom Land herunter fließt, belebt die Lagune seit jeher und macht sie fruchtbar, und die Menschen haben Gewinn daraus gezogen ... Seit 1501 herrscht ein Expertenrat, der „Wassermagistrat", über das heikle Gleichgewicht von Land und Meer."
Ein ebenso spannender wie bedrohlicher und aktueller Roman, der am Beispiel Venedigs einmal mehr illustriert, was Konsumbesessenheit anrichten kann, wenn der Glaube an technische Höchstleistungen die einzige Maßnahme gegen Massentourismus, Klimawandel und in der Folge die Zerstörung der Umwelt ist. Das gilt nicht nur für Venedig, sondern weltweit.
(Christiane Schwalbe)
Isabelle Autissier, *1956 in Paris, Seglerin und Autorin, hat 1991 als erste Frau die Welt alleine umsegelt, war von 2009 bis 2021 Präsidentin des WWF Frankreich, lebt in La Rochelle,
Isabelle Autissier "Acqua Alta"
aus dem Französischen von Kirsten Gleinig
Roman, mare Verlag 2024
208 Seiten, 23 Euro
eBook 14,99 Euro