Doris Anselm
und in dem Moment holt meine Liebe zum Gegenschlag aus
"… und in dem Moment holt meine Liebe zum Gegenschlag aus" und wirft den Kioskbesitzer auf den Boden. "Er ringt nach Luft. Er kriegt keine. Meine Liebe drückt sie ihm ab mit ihrem ganzen Gewicht, mit einem Knie auf seinem Brustkorb. Sie könnte ihn umbringen."
Launische Gefühle
Aber M. Kashani ist nicht nur zäh, er hat auch Loriot im Sinn und Durex im Angebot und ergibt sich seinem Schicksal, in das ihn die Ich-Erzählerin in seinem Kiosk auf der U-Bahn-Station zwingt, weil sie sich aus unerfindlichen Gründen in ihn verliebt hat. Die Gefühle sind ohnehin launenhaft in Doris Anselms Geschichten, immer wieder treffen sie den falschen oder es fehlt der Mut, sie zu zeigen, weil gerade jemand anders am Zuge ist.
Schwimmen im See
"Du kannst Dich genausogut in einen Korb Kirschen verlieben" sagt das "Mädchen", das beim Umzug hilft, obwohl sie Jul gar nicht kennt. Der hat magische Anziehungskräfte, natürlich, und denen erliegt sie fast. Die Geschichte pendelt zwischen Schwimmen mit Jul und besagtem Umzug – der Kronleuchter, aus den Tiefen des Sees hervorgeholt, bleibt in einer Ecke liegen:
"Die grünlichen Schlieren waren angetrocknet, sodass die Glastropfen nicht glänzten. Ich hätte jeden einzelnen abwischen müssen, und dafür war mir zu heiß."
Funkelnde Feder
Doris Anselm erzählt schräge Geschichten mit liebenswerten Personen: Greta und Greta zum Beispiel, die sich gegenseitig Zettel schreiben, wenn sie das Haus verlassen, und sich an Alfred erinnern, "… der hätte aufgeräumt. Wenn er noch da wäre, wenn er zufällig jetzt gerade da gewesen wäre …".
Alfred, den Handelskapitän, gibt es nicht mehr und Gretas zwei Leben schieben sich in- und wieder auseinander, so allein zu sein, das ist schwer.
Erinnerungen an Freundschaften in der Kindheit weckt eine silberne Feder, die in einem Schneehaufen steckt, sie blinkt und funkelt, landet im Portemonnaie eines Lehrers "kaum größer als sein Daumennagel, das Silber unecht."
Verwirrende Begegnungen
Nicht alles ist auserzählt, was sich da in den alltäglichen oder überraschenden Begegnungen von Menschen abspielt, die sich eher zufällig über den Weg laufen, ihr jeweiliges Gegenüber abschrecken oder faszinieren. Die Autorin lässt ihre Figuren zögern und zaudern, sie trauen sich nicht, kämpfen mit Entscheidungen, sind mutig und schrecken dann doch zurück vor zu viel Draufgängertum. Vieles bleibt in der Schwebe und damit der Fantasie der Leser überlassen, sich in der Verwirrung der Gefühle zurecht zu finden. Manchmal braucht es künstliche Tränen aus der Apotheke, um genau hinzusehen, und hin und wieder auch einen Hinterausgang, um der intensiven Begegnung mit dem einst angehimmelten Freund oder einem unbeachteten Klassenmitglied zu entkommen.
Sprachlich außergewöhnlich
Es sind wunderbar vielschichtige und oft abgründige Geschichten, in denen undurchschaubare Erzählerinnen um geheimnisvolle Personen kreisen, Geschichten mit doppeltem Boden, sprachlich außergewöhnlich erzählt und mit einem tiefen Blick auf Träume, Hoffnungen und Verzweiflung. Doris Anselm schafft Bilder und Personen, die in Erinnerung bleiben. Ein beeindruckendes erzählerisches Debüt.
(Christiane Schwalbe)
Doris Anselm *1981 in Buxtehude/Niedesachsen, Radiojournalistin in Berlin, war Gewinnerin im "Open Mike"-Talentwettbewerb 2014, einer der wichtigsten Plattformen für literarische Neuentdeckungen.
Doris Anselm "und in dem Moment holt meine Liebe zum Gegenschlag aus"
Erzählungen, Luchterhand Literaturverlag 2017, 190 Seiten, 18 Euro
eBook 13,99 Euro