Clemens Meyer
Die stillen Trabanten
Schatten und Dunkelheit hüllen die Menschen in den meisten Geschichten ein, in denen Clemens Meyer an Orte seiner Kindheit zurückkehrt, oder an Sehnsuchtsorte, wo man Poesie findet, ohne sie erwartet zu haben.
Alte Freunde
Hinterhöfe, oft Bahnhöfe, Orte, die den Zerfall und den Aufbruch in neue Zeiten gleichermaßen atmen, und Meyer verzaubert sie zu kleinen Schneekugeln, in die seine Menschen eingeschlossen sind, ohne es zu wissen. Die alten Freunde, mit denen der Heimkehrer auf den Dächern arbeitete und Sterne beobachtete, sind alle verschwunden:
"die Zeiten mischen sich, es ist kalt geworden, kein Licht in 'Inges Eck', … der Tod ging um in unseren Häusern, auf unseren Hinterhöfen.“
Auf kleinen Bühnen
Und doch werden sie immer da sein, die Verlorenen, so lange einer zurückkehrt, an sie denkt, durch die Zeiten hindurchschaut, ins "Reich der Schatten". Clemens Meyers Erzählungen entfalten diese magische Fähigkeit, in den Schneekugeln der Erinnerung wie auf kleinen Bühnen das zum Sprechen zu bringen, was nicht verloren gehen kann, weil es sich der vergehenden Zeit entzieht.
Zwei Frauen begegnen sich nachts in der Bahnhofskneipe, die eine reinigt seit zwanzig Jahren die Gleise, die andere arbeitet im Friseursalon, und ohne viele Worte entsteht Nähe zwischen ihnen, haltbarer vielleicht, als es ihnen bewusst ist. Wie Meyer dieses aufkeimende Zutrauen entwickelt, in zarter, genauer Sprache, ist hochpoetisch und erzählt von den schwierigen Verhältnissen der "kleinen Menschen", indem er sie für Augenblicke von ihren Schatten befreit und in das Licht der vorsichtigen Annäherung und Vergewisserung zieht.
Spiegel des Lebens
Wenn ein alter Jockey davon träumt, das Pferderennen über den vereisten See bei St. Moritz zu erleben, spiegelt sich sein ganzes Leben in den Beobachtungen und Träumen des zufälligen Freundes, dem er seine Geschichten erzählt. Erst im Gegenüber, in der Begegnung gewinnen das gelebte und das ungelebte Leben ihre ganz eigene Mischung, und der Erzähler Clemens Meyer erlöst diese ganz besonderen Geschichten, indem er sie aus dem Alltag herauslöst und mit Poesie auflädt. Von Wolfgang Hilbig ließ er sich dabei inspirieren, von ihm lernte er, dass Geschichten klar verortet sein müssen, um etwas von der Welt, in der wir leben, zu erzählen.
Leere Blätter
In der Erzählung vom Arbeiterschriftsteller Willi Bredel, der Bibliotheken liebte und im Keller der Lenin-Bibliothek in Moskau von Erinnerungen und Visionen heimgesucht wird, kehrt Meyer zurück in die Vorgeschichte der DDR und beschwört die Geister derer, die, von Stalinismus und Krieg gezeichnet, ein Land aufbauen sollten.
"Sie alle hatten Schatten, Schatten über Schatten, die sich an sie hängten, die hinter ihnen schleiften, dunkel und grau und rotgefleckt bisweilen,“
und der Spanienkämpfer, der Erbauungsromane für die Jugend schreiben soll, erkennt im blinden, zersprungenen Spiegel, dass der "neue Mensch" sich selbst zerfleischt hat und er dennoch die leeren Blätter seines Manuskripts füllen muss.
Dunkles Leuchten
Clemens Meyer schreibt: "Ich will Geschichten schreiben, die leuchten.“ Mit seinen neun Erzählungen dieses Bandes, denen drei Miniaturen hinzugefügt sind, ist es ihm in beeindruckender Weise gelungen. Es ist jedoch ein dunkles Leuchten, das um die Bitterkeit ebenso weiß wie um die dunklen Märchen, die die Menschen begleiten und zu ihren Spiegeln werden können.
(Lore Kleinert)
Clemens Meyer, *1977 in Halle / Saale, vielfach ausgezeichneter deutscher Autor, lebt in Leipzig
Clemens Meyer "Die stillen Trabanten"
Erzählungen, S. Fischer Verlag 2017, 272 Seiten, 20 Euro
eBook 16,99 Euro