Helga Schubert
Vom Aufstehen
Ein Leben in Geschichten
„Mein idealer Ort ist eine Erinnerung: An das Aufwachen nach dem Mittagsschlaf in der Hängematte im Garten meiner Großmutter und ihres Freundes ..." - warmer Streuselkuchen, Muckefuck, Greifswalder Obstbausiedlung.
Ein Sehnsuchtsort
„Ich lag im Schatten, und es war ganz still. Und es duftete nach dem warmen Kuchen. Dann machte ich die Augen auf. Es war mein Sehnsuchtsort."
Hier fühlte sich Helga Schubert in den Sommerferien willkommen, geliebt, glücklich. Zuhause in Berlin war sie das ungeliebte Kind einer hartherzigen Mutter. Ihr Vater fiel im Krieg, ein Jahr nach ihrer Geburt, ein lebenslanges Trauma und eine Sehnsucht. Vielleicht hätte er sie lieb gehabt, in den Arm genommen.
„Kriegskind, Flüchtlingskind, ein Kind der deutschen Teilung."
Schuberts autobiografische Geschichten erzählen vom Alltag in der DDR, von Überwachung und Ausreiseverbot ebenso wie von den Reisegenehmigungen als Schriftstellerin und warum man trotzdem „zurückfuhr hinter den Minengürtel". Sie erinnern an die volle
„Berufsarbeit, anfangs ja auch noch am Sonnabend, Hausarbeit mit Ofenheizung und ohne Waschmaschine ... Geschichten schreiben, der Versuch, sie zu veröffentlichen im kontrollierten Land ..."
Und sie erklären, warum man im Osten besser keine Blutsverwandten im Westen haben sollte, weil der Sohn dann nämlich keine Lehrstelle bekommt - er könnte forstwirtschaftliche Geheimnisse ausplaudern.
Große Sehnsucht
Wenn sie vom Leben in der Diktatur erzählt, von Unterdrückung und kleinen Freiheiten, dann ist da immer die große Sehnsucht:
„Diese Fähren am Horizont, wenn wir am Strand standen und auf die Ostsee sahen, waren zu DDR-Zeiten immer der Beweis, dass es die Welt noch gab, die normale zivilisierte Welt des 20. Jahrhunderts."
Beim „Sammeln von Schicksalen, von Sätzen" antwortet die Autorin einem deutschen Literaturprofessor und seinen dezidierten Fragen nach DDR-Identität und einer möglichen Veränderung ihres Bewusstseins nach der Wende mit klugen Reflektionen und einem zentralen Satz:
„Die DDR ist wie eine Brandmarke bei einem Zuchtpferd – man hat sie lebenslang."
Ohne Groll
Vornehm geht die Welt zugrunde – das war der Wahlspruch der exzentrischen Mutter, die das Geld nicht zusammenhalten konnte und es mit vollen Händen ausgab, für sich selbst und für ihre Urenkelin, „ihre beste Freundin", die sie mehr liebte als ihre Tochter. Die sollte sowieso ein kleiner Peter werden. Auf der beschwerlichen Flucht vor der Roten Armee schob sie das Kind zu Fuß in einem dreirädrigen Kinderwagen bis Greifswald, zu den Eltern ihres Mannes. Die Fünfjährige war todkrank. Sie erinnert sich, grausam präzise:
„Meine Mutter setzte sich mit ihrer Pistole an das Bett ihres Kindes und sagte zu ihm: „Wenn du jetzt stirbst, erschieße ich mich".
Es bleibt nicht die einzige Drohung dieser Art. Die beiden werden nie zueinander finden. Erst nach dem Tod der Mutter mit 101 Jahren beginnt Schubert mit der Aufarbeitung dieser lebenslang belastenden Beziehung. Als sie den Nachlass sichtet, findet sie 184 Briefe ihres Vaters.
Das vierte Gebot
Mit 71 Jahren bittet Helga Schubert, die studierte Psychologin, die in der DDR als Therapeutin gearbeitet hat, eine Pastorin um ein Gespräch über das vierte Gebot, das sie nicht befolgen könne. Sie erzählt von der Mutter und den vielen Verletzungen, die diese ihr zugefügt hat, und von den Schuldgefühlen, weil das vierte Gebot doch die Liebe für Vater und Mutter verlange ...
„Irrtum, sagt die Pastorin. Von Liebe ist in diesem Gebot nicht die Rede. Sie brauchen sie nur zu ehren."
Es ist der sanfte, versöhnliche, ironische und manchmal fast beiläufige Ton, der Schuberts Geschichten so berührend macht. Es gibt darin keinen Groll, keine Wut, nur Erinnern, Nachsinnen, Verzeihen. Was sie aus ihrem Leben erzählt, ist schmerzhaft und tröstlich, der leise Humor, der sich bisweilen zwischen den Zeilen versteckt, bringt zum Lächeln, man spürt, dass hier eine Autorin Frieden gemacht hat mit sich und ihrem Leben.
Spätes Glück
Bereits 1980 war Helga Schubert zu den „Tagen der deutschsprachigen Literatur” nach Klagenfurt eingeladen. Sie sollte den Antrag auf Ausreise zurückziehen - „wollen sie etwa Reich-Ranicki vortanzen?" - einem „berüchtigten Antikommunisten", wie es in ihrer Stasi-Akte heißt. Sie tat es nicht, „sie mussten es mir verbieten". Die letzte Geschichte in ihrem Buch heißt "Vom Aufstehen", mit ihr gewann sie 2020 mit 80 Jahren den Bachmannpreis, eine späte Genugtuung, ein "kleiner Sieg über die Diktatur" und vor allem Freude.
„Die Geschichte hat etwas herausgehoben aus dem Lebensfluss, das ich nun betrachten kann, mit Freundlichkeit oder Trauer, mit Bewunderung oder Abscheu. ... Geschichten als Mikroskop. Geschichten als Spiegel. Die guten Geschichten sind wie das Leben tragikomisch."
(Christiane Schwalbe)
Helga Schubert, *1940 in Berlin, Psychotherapeutin und freie Schriftstellerin in der DDR, lebt in der Künstlerkolonie Drispeth bei Schwerin
Helga Schubert „Vom Aufstehen"
Ein Leben in Geschichten
dtv, 224 Seiten, 22 Euro
eBook 18,99 Euro, AudioCD 15,19 Euro
Weiterer Buchtipp zu Helga Schubert
Der heutige Tag - Ein Stundenbuch der Liebe