Manuela Reichart
Schon wieder Verspätung!
Reisebekanntschaften
"Es gibt Menschen, die man nie trifft. Sie sind aber da. Keine große Einsicht. Es lohnt, hinzuhören." Und auf Reisen trifft man sie dann doch, zufällig, nicht sehr lange, und Manuela Reichart hat zugehört.
Neues Leben
Dem Mann, der mal Pfarrer war, sein erstes Leben mit Frau und Kindern verließ und in Kanada mit seiner großen Liebe ein Geschäft aufbaute -
"Neues Leben. Hat geklappt. In einer anderen Welt. Sollte wohl so sein."
Dem ehemaligen Musiklehrer aus Hamburg, dessen Vater vor langer Zeit verschwand und den er mit 60 in Miami zufällig wiederfindet – und bevor er ihn ansprechen kann, wird der alte Mann vom Auto angefahren. Kein Happy End, sondern ein Hirntrauma, und zweimal in der Woche besucht er ihn, "freiwillig bleibt hier keiner, wenn er bei Trost ist."
Zufällige Begegnungen
Die meisten der 30 Prosaminiaturen erzählen nicht von großen Schicksalsschlägen, denn das würde man Reisebekanntschaften nicht zumuten, doch sie berühren immer das, was im Leben am bedeutungsvollsten erscheint, jedenfalls im Augenblick der zufälligen Begegnung unterwegs: Die schwindende Schönheit der Frau, die immer als Schönste galt und den Verlust ihres Lebenszentrums bemerkenswert lakonisch kommentiert, die junge Tramperin, die sich fragt, ob sie je der perfekten, klugen Mutter ihres Freundes gefallen wird, oder der Zigarrenraucher am Pool des Luxushotels, der seiner Frau zuliebe mitreist.
Paradies mit Doppeltür
Im Urlaub, auf Reisen liefert man Kurzversionen von sich, aus denen sicher auch umfangreiche Romane zu gewinnen wären. Doch man genießt die Freude an der kleinen, genauen Form, denn jedes Wort ist hier wichtig und wohlgesetzt. Und der Phantasie wird ein großer Raum eröffnet. Wer sich fragt, wer all die dicken Bücher verschlingt, bekommt eine mögliche Antwort von der Frau, die jedes Jahr wieder nach Korfu fährt, um Zeit zum Lesen zu haben:
"Dicke Romane müssen es sein. Damit es sich lohnt. Ich meine, ich lasse mich auf die Menschen, die Geschichten ein, das macht man doch nicht nur für ein paar Seiten."
Oder das kinderlose Rentnerpaar, das auf seinen Reisen getrennte Zimmer genießt, lässt eine Ahnung vom langen, vergangenen Leben zu, ohne dass man mehr wissen muss:
"Zwei Zimmer mit Doppeltür und Personal. So stelle ich mir das Paradies vor. Und weißer Strand und immer die gleiche Sonnenliege mit Blick auf den Ozean. Dafür hat sich das Arbeitsleben gelohnt."
Nah genug
Manuela Reichart verdichtet die Blicke hinter die Fassaden der Menschen, denen sie auf Reisen begegnet, zu Essenzen des Lebens, beiläufig und undramatisch, mitunter mit ganz leiser Boshaftigkeit, aber immer so, dass die Menschen, die man sonst nie trifft, kenntlich werden –
und uns auf melancholische Weise nah rücken, gerade nah genug.
(Lore Kleinert)
Manuela Reichart "Schon wieder Verspätung!"
Reisebekanntschaften
Dörlemann 2015, 120 Seiten, 16,00 Euro eBook 11,99 Euro