Thomas de Padova
Nonna
Mattinata, ein kleines Dorf in Apulien, am Fuße des Gargano mit Blick auf die Adria – das ist für Thomas de Padova ein Sehnsuchtsort, an den er 50 Jahre lang alljährlich in den Sommerferien zurückkehrt.
Warten auf das Leben
Es ist das Dorf seiner Nonna, der Großmutter, die – alt und gebrechlich geworden – nichts von ihre Resolutheit und Willenskraft eingebüßt hat. Auf einem kleinen Stuhl sitzt sie am Fenster, mit Blick auf die Straße, schwarz gekleidet, stets mit wollenen Socken, weiten Röcken und Kopftuch. Seit Jahrzehnten lebt sie zwischen umhäkelten Kissen und Decken, ohne Kühlschrank und ohne Heizung – zumindest ist die nicht angeschlossen. Sie hat ein Telefon, aber sie benutzt es nicht – zu teuer, genauso wie Müll, Strom und Wasser. Zum Glück muss sie keine Miete zahlen, ihr Vater kaufte in den 1930er Jahren das Haus, in dem sie lebt, betet und wartet - zum Beispiel auf den Pfarrer, der sie regelmäßig besucht, vorwiegend, weil er Spenden kassieren will. Wer weiß, wann der Tod kommt und man geistliche Hilfe braucht ... Oder auf die Nachbarin, die Milch und Nudeln bringt, oder auf ein kleines Stückchen Leben, das sich vor ihrem Fenster abspielt.
Ein Gott mit Telefon
Sie hat keine Schule besucht, ihr Glauben ist kindlich und naiv geblieben: Durch welche Pforte Jesus wohl in den Himmel gekommen sei, fragt sie den Enkel und:
"Ich glaube, dass auch Gott ein 'telefonino' hat. Nicht so ein kleines wie Du und die anderen, sondern ein ganz großes. Damit kann er mit allen Menschen ständig in Verbindung bleiben."
Grenzen dicht
De Padovas Urgroßväter wanderten nach Amerika aus, um wie Tausende anderer Arbeiter aus Irland, Schweden, Deutschland, Polen und Griechenland ihr Glück zu machen. Meist fanden sie es nicht, kehrten arm ins Dorf zurück, allein oder mit Familie. Mit einem neuen Einwanderungsgesetz machte Amerika schließlich für Süd- und Osteuropäer die Grenzen dicht. Sein Nonno musste Mitte der 20er Jahre wohl oder übel zurück nach Italien, in
"… dieses Drecksnest, dieses Scheißkaff, wo die Leute am Morgen ihre Pisse auf die Straße schütten, wo die Weiber hinter den Gardinen gaffen, bis sie irre werden, und sich das Schicksal an einer vermaledeiten Türschwelle entscheidet."
Voller Hoffnungen
Diese Türschwelle birgt ein Geheimnis, das die Nonna ihrem Enkel anvertraut. Aber von diesem Mann, den sie heiratete, den alle 'americano' nannten und der erst zum Sterben wieder zurückkehrte ins Dorf, von dem gibt es gerade mal ein Bild und drei Briefe aus Deutschland, wohin er auswanderte – wie vor ihm
"drei Männergenerationen, die sich mit einem Koffer voller Hoffnungen ins Offene hinausbegaben. Meine Nonna hat sie alle überlebt."
Italienische Geschichte
Geschichten aus einem entbehrungsreichen Leben in einem uralten Traditionen verhafteten Dorf, in dem die Zeit stehen geblieben ist, Recherchen über die Geschichte Italiens, seine Staatsgründung und seine Widerstandsbewegungen, die Massenauswanderung der Landarbeiter 1890 bis 1900, über das furchtbare Erdbeben 1893 – de Padova verknüpft historische Recherchen und persönlich Erlebtes, erzählt atmosphärisch und lebendig und setzt seiner Nonna mit diesem Buch ein liebevolles und sehr persönliches Denkmal. Aber er blickt auch zurück in eine Zeit, in der ein italienisches Dorf von Gemeinschaft und Traditionen lebte, denen mit wachsendem Tourismus kaum noch Wert beigemessen wird.
(Christiane Schwalbe)
Thomas de Padova, *1965 in Neuwied, er hat Physik und Astronomie in Bonn und Bologna studiert und war Wissenschaftsredakteur beim Tagesspiegel; er hat Bücher u.a. über Einstein, Kepler und Galilei geschrieben.
Thomas de Padova: "Nonna"
Hanser Berlin 2018, 176 Seiten, 18 Euro
eBook 13,99 Euro