Kerstin Hensel
Regenbeins Farben
Ein Friedhof in der Einflugschneise des Flughafens, nicht gerade ein Ort der Andacht und Stille. Drei Witwen treffen sich hier regelmäßig, um die Gräber ihrer verstorbenen Ehemänner zu pflegen.
Witwen mit Stil
Zwei von ihnen sind kapriziöse und exzentrische Persönlichkeiten – Lore Müller-Kilian kommt stets elegant gekleidet und mit Champagner ans Grab ihres Mannes, eines Fabrikanten und Kunstsammlers, der sie wohlsituiert zurückgelassen hat. Und stets mit Hut:
"Ein Flapperhut aus gelbem Seidentaft, über dessen schwingender, breit ausladender Krempe sich ein Gelege zierlicher Knöpfe und Kunstperlen befindet. Eingesteckte Federn sowie Blütendekor geben dem Hut etwas Feierliches."
Ziva Schlott liebt den weiten Schlabberlook, ist 85 Jahre alt, emeritierte Kunstprofessorin, die mit ihrem Mann, einem Ökonomen und Sozialisten, um die Wette rauchte. Sie entstammt einer jüdischen Familie mit dramatischer Fluchtgeschichte:
Sie "lernte Spanisch, Französisch, Schwedisch, Züritüütsch. Sie lernte, wie man sich alle paar Jahre in neue Schulbänke drückt, wie man auf's Holz gekritzelte Tinte- und Kreidezeichen entschlüsselt ... sie lernte gern, von Neugier befeuert, etwas zu erfahren, woran sie sich halten konnte."
Verkleidung nur in der Kunst
Die dritte und mit 49 Jahren jüngste der Witwen, Karline Regenbein, ist Malerin, eine graue Maus zwar, aber “ausgestattet mit spitzbübischer Intelligenz”, ungeschminkt, in Cordhosen, Pullover und Parka:" "Karline duldete Verkleidung nur in der Kunst ... Nichts von ihrem Wesen war auf Anerkennung, geschweige auf Ruhm aus." Ihr Mann, ein bekannter Fotograf, hat sie eine Ehe lang gegängelt und gedemütigt. Sie malt ungewöhnliche Bilder, nutzt Teer und Splitt und Schotter, ist eine Außenseiterin, die sich dem Kunstgeschäft beharrlich entzieht. Malerin, Professorin, Kunstsammlerin und dazu als Vierter im Quartett – ein Galerist, um den die drei Frauen heftig konkurrieren. Auch seine Frau ruht auf dem kerosinbelasteten Friedhof. Eduard Wettengel, "Höckernase, altmodische Brille, ein Basecap, unter dem eine butterblumenblonde Lockenwelle hervorschwappte”, wurde in der DDR wegen Staatsfeindlichkeit vom Studium relegiert, musste mit Hacke und Schaufel auf dem Friedhof Gruben schaufeln, um zur Staatstreue zurückzufinden.
Regenbeins Bilder
Ein illustres Quartett mit schillernden deutsch-deutschen Lebensläufen, die sich höchst überraschend stets aufs Neue verknüpfen und überschneiden. Doch eigentlich geht es immer nur um Karline, die scheue Hauptperson, deren Bilder endlich und unbedingt an die Öffentlichkeit sollen. Was Eduard entschlossen in die Hand nimmt – die Vernissage endet im Chaos. Eine von vielen filmreifen Szenen in diesem Buch. Karin Hensel, Erzählerin und Lyrikerin, erzählt ihre durch und durch ver-rückte und vergnügliche Geschichte sprachlich kunstvoll und mit großer Zuneigung für ihre Figuren, den Blick auf ihre Liebe im Leben gerichtet - die Suche nach der einzigen und wahren, der erzwungenen oder der sehnsüchtigen, unerfüllten Liebe. Sie läßt ihr ungleiches Quartett in komische und zugleich tragische Erlebnisse stolpern, fein beobachtend, wie sie sich, geprägt durch ihre unterschiedlichen Lebenserfahrungen, annähern und sich in immer neue absurde Situationen hineinmanövrieren. Nur auf dem Friedhof, über den die Düsenjets donnern, finden sie Frieden und Gleichgewicht wieder. Ganz ohne ihre Toten können sie eben doch nicht leben.
(Christiane Schwalbe)
Kerstin Hensel, *1961 in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz), Lyrikerin und Schriftstellerin, lehrt an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" als Professorin für Deutsche Verssprache, lebt in Berlin.
Kerstin Hensel "Regenbeins Farben" Novelle, Luchterhand Verlag 2020, 256 Seiten, 20 Euro
eBook 13,99 Euro