Paolo Giordano
In Zeiten der Ansteckung
Wie die Corona-Epidemie unser Leben verändert
Er ist Naturwissenschaftler und mit “Die Einsamkeit der Primzahlen” 2008 berühmt geworden. In seinem Essay setzt sich Paolo Giordano mit der Corona-Krise auseinander.
Unentwirrbar vernetzt
Im Februar hat er damit begonnen, dieses kleine Büchlein zu schreiben, eine Art Tagebuch mit Gedanken, die auf ein paar essentielle Einsichten verweisen. Denn Corona kam nicht wie ein unerwarteter Sturm über uns. Sars-Cov-2 ist das erste neuartige Virus, das die ganze Welt heimsucht, das von China seinen Weg um den Erdball antrat, ungläubig verfolgt von Menschen überall auf diesem Planeten, die seit Wochen auf Zahlen starren – Länder, Infizierte, weitere Ansteckungen, Zahl der Beatmungen, Tote, Genesende, Junge, Alte, Risikogruppen. Anfangs mochte niemand wirklich glauben, dass dieses Virus vom weit entfernten China auch zu uns vordringen könnte. Weit entfernt? Das war früher. Heutzutage erreichen wir (nicht nur) mit dem Flugzeug binnen weniger Stunden jeden Kontinent.
“Die Ausbreitung des Virus ist ein Indikator dafür, wie global unsere Welt geworden ist, wie unentwirrbar vernetzt ... Der Flugverkehr hat das Schicksal der Viren verändert, er erlaubt ihnen, weit voneinander entfernte Landstriche sehr schnell zu besiedeln.”
Gegen die Angst
Giordano erklärt nicht nur, wie eine Epidemie rein rechnerisch zustande kommt, sondern auch, welche Faktoren zu beachten sind, um sie einzugrenzen oder gar zu stoppen – und damit auch der Angst Einhalt zu gebieten, die Epidemie sei unaufhaltbar und würde die Menschheit vernichten. Denn jeder kann etwas tun, um nicht nur sich selbst zu schützen, sondern auch andere, egal, wie jung oder alt und damit gefährdeter sie sein mögen.“In Zeiten der Ansteckung ist fehlende Solidarität vor allem ein Mangel an Vorstellungskraft” - u.a. über die Schnelligkeit der Verbreitung. Es gibt eine
“neue Form der erweiterten Verantwortung, der sich niemand von uns entziehen kann.. ... Wenn die Menschen, die miteinander agieren, mit Bleistiftstrichen verbunden wären, wäre die Welt ein einziges, riesenhaftes Gekritzel.”
Oder mit den Worten des Philosophen John Donne: “Kein Mensch ist eine Insel”. Im Gegenteil: Der Mensch ist so mobil wie nie zuvor – Flüge, Züge, Busse, Autos, Kreuzfahrtschiffe: “Das simultane Hin und Her von siebeneinhalb Milliarden Menschen, das ist das Transportnetz des Coronavirus.”
Kettenreaktionen
Aber so sehen das nicht alle, schon gar nicht Verschwörungstheoretiker oder Fremdenhasser, die asiatisch aussehene Menschen anpöbeln unter dem Motto: Ihr seid schuld, denn: “Die Chinesen essen grauselige Tiere. Lebend.” Giordano spricht aus, was viele denken. Kurz und prägnant. Aber er hebt keinen Zeigefinger, moralisiert nicht. Er hat den kühlen Blick des Naturwissenschaftlers, der Fakten zusammenzählt und Ergebnisse bekommt. Wenn Insekten sterben, Wälder abgeholzt, Tiere in Massen gehalten werden und Pestizide Ackerböden verderben, dann löst das Kettenreaktionen in der Natur aus, “weil Ansteckung nur ein Symptom ist. Die Infektion liegt in der Ökologie.” Wer übrig bleibt, sucht sich neue Nahrungsquellen, Wirte, Lebensräume.
Giordano bleibt auch nicht abstrakt, er lebt in Rom, erlebt in Italien hautnah, wie dramatisch die Epidemie ist und wie notwendig die strengen Regeln sind, um sie einzudämmen. Er stellt keine Schuldfrage, sondern die Frage nach persönlichem Verhalten jedes Einzelnen von uns, verbindet sie mit jeweils eigenen Überlegungen zu dem, was Gemeinschaft bedeutet hat und bedeuten wird. Wenn wir bereit sind, Giordanos Gedanken zu folgen und den Ursachen nachzuspüren, wird auch die vielzitierte neue Normalität einsehbarer.
(Christiane Schwalbe)
Paolo Giordano, *1982 in Turin, Physiker, Autor, lebt in Rom
Paolo Giordano "In Zeiten der Ansteckung"
Wie die Corona-Epidemie unser Leben verändert .
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner
Rowohlt Taschenbuch Verlag, 80 Seiten, 8 Euro, eBook 4,99 Euro