Polina Barskova
Lebende Bilder
„Wir leben noch, wir gehören zur Kategorie der Lebenden, unseren Bezugsscheinen nach sogar zu den Arbeitern! Und wir wollen hoffen, dass dieses Pack es nicht wagt, uns gerade deshalb zu entlassen! Fürs Erste sind wir jedenfalls am Leben…manchmal frage ich mich sogar, ob wir überhaupt sterben können?“
Geschichten erzählen
Ein Liebespaar in der verwaisten Eremitage: Der Schriftsteller Moissej und die Kunsthistorikerin Totja kämpfen im Winter 1941/42 während der Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht gegen Hunger und Kälte, indem sie sich Geschichten erzählen, sich streiten, sich erinnern. Beide Protagonisten gab es wirklich: Moissej Waxer starb am 4. Februar 1942, Totja, Antonina Idergina, war in dieser Nacht nicht bei ihm, nachdem er einen Platz auf der Krankenstation bekommen hatte und beide auf sein Überleben hofften, so heißt es in der letzten Szene dieses kleinen Theatertextes.
Vergessene Autoren
Diesem Herzstück ihres ersten Prosabandes, komponiert aus Erinnerungsfragmenten und eigenen Inspirationen, stellt Barskova neun poetische Texte voran. Sie kreisen um die Künstler und Künstlerinnen der Leningrader Avantgarde in den Jahren der Blockade, Angehörige einer „mit seelischen Geschwüren übersäten Generation“ als Überlebende des stalinistischen Terrors, die in der Kunst Zuflucht suchten und fanden. Barskovas Sprache mit ihrem Reichtum an Bildern stellt in ihrer spielerischen, fast tastenden Erkundung der fragmentierten Geschichte Bezüge zum Schreiben dieser anderen, vielfach vergessenen Autoren her.
„Wenn diejenigen, die überlebt hatten, die allzu schnell wieder rund und schwammig und besinnlich geworden waren, sich später trafen, schwiegen sie verschwörerisch. Vom Winter durfte man weder sprechen noch an ihn denken. Der Winter war ihr gemeinsames Geheimnis, wie eine perverse Tat.“
Vielstimmiges Mosaik
Die eigene Durchlässigkeit für das gewaltige Trauma, dessen schmerzhafter Nachhall erst allmählich wahrgenommen wird, verbindet die Textmontagen. Barskova wurde 1976 in Leningrad geboren, studierte in Berkeley und lehrt Literaturwissenschaft in Amherst. Über die Schriftstellerin Anais Nin, die ihr College vierzig Jahre zuvor zur Eröffnung besuchte, schreibt sie:
„Anaisanais, deinen Tagebüchern verdanke ich den Neid darauf (warum darf die das, und ich nicht?), von Dingen zu sprechen, von denen man nicht spricht – aber wovon soll man sonst sprechen?“
Die seit 1998 in den USA lebende Autorin entreißt die Toten dem Vergessen, indem sie ihre Eigenarten beschwört und ihre Stimmen wie in einem Mosaik zu einer einzigen zusammenfügt, scheinbar ungeordnet, und dennoch, mit Leidenschaft für Umwege und Abschweifungen, der Logik der Poesie folgend. Polina Barskova reißt Grenzen zwischen Schmerz, Lust und Gelächter ein und erweckt die Bilder zu eigenwilligem Leben.
(Lore Kleinert)
Polina Barskova, *1976 in Leningrad, Literaturwissenschaftlerin, galt als literarisches Wunderkind und debütierte bereits als Achtjährige, veröffentlichte bisher acht Gedichtbände und diesen ersten Prosaband, sie lebt in den USA
Polina Barskova „Lebende Bilder“
aus dem Russischen von Olga Radetzkaja
Suhrkamp Verlag 2020, 220 Seiten, 22 Euro
eBook 18,99 Euro