Volker Kutscher
Westend
„Ein Leben der zerplatzten Träume“ - Volker Kutschers grandioses, 10bändiges Geschichtsepos um den Kölner Kommissar Gereon Rath in Berlin endete mit der Reichspogromnacht 1938. Der Krieg war nicht mehr weit, und was aus den Personen wurde, deren Leben Kutscher so lange und sorgfältig auf dem Hintergrund der deutschen Geschichte Revue passieren ließ, blieb offen.
Harter Abschied
Ein Happy End war jedenfalls nicht möglich, für niemanden. Für Leserinnen und Leser ein harter Abschied, aber der Autor hat sich entschieden, seine Handlungsfäden noch einmal zu einem kunstvollen Muster zu verknüpfen: ein Historiker findet 2025 im Nachlass eines emeritierten Professors Kassetten mit einem Interview, das 1973 in einem Altersheim im Berliner Westend aufgezeichnet wurde. Kriminalkommissar Rath, 74 Jahre alt, lässt sich damals widerwillig auf das Gespräch mit Dr. Singer ein:
„Sie wurden 1937 für tot erklärt…Rath: Die SS wollte meinen Kopf. Ich musste untertauchen. Die Flucht in die USA hat mir das Leben gerettet. Dr. Singer: …Sie wurden für tot erklärt, und Charlotte Rath, ihre vermeintliche Witwe, heiratete 1939 ein zweites Mal. Rath: Lassen wir das. Das ist mir zu privat. Reden wir über meinen Beruf. Darum geht es doch.“
Schatten der Vergangenheit
Doch was ‚zu privat‘ erscheint, holt die Gesprächspartner nach und nach und bald mit voller Breitseite wieder ein. Wie Volker Kutscher die losen Fäden seiner 10bändigen Reihe wieder aufnimmt und sie obendrein mit der prekären Situation der geteilten Stadt Berlin und den Machenschaften ihrer politischen Akteure auf beiden Seiten verbindet, ist atemberaubend spannend und schreckt vor keiner noch so überraschenden Wendung zurück.
Die wegen der Polizistenmorde 1931 gesuchten Männer machten später in der DDR Karriere, und 1953 ist auch Rath wieder auf der Jagd nach den Schatten der Vergangenheit. Der Interviewer Dr. Singer hat ein Geheimnis, das den Verschwiegenheiten Raths in nichts nachsteht. Auch Charlotte, Gereon Raths große Liebe Charly betritt wieder das Spielfeld, und die Interviewform, die Kutscher gewählt hat, baut große Spannung auf. Als Frau Böhm, die in der DDR Kriminalbeamtin wurde, trifft sie Gereon Rath wieder:
„Das Leben ist ungerecht. Das solltest du doch inzwischen gelernt haben. Rath: Oh ja, verdammt, ich habe gelernt, was das Leben ist: der Mist, der passiert, während wir auf Dinge warten, die niemals eintreten. Frau Böhm: Wo hast du denn diesen klugen Satz her? Rath: Keine Ahnung. Irgendwo gehört. Frau Böhm: Sag mal, läuft das Tonband etwa noch?“
Abschiedsgeschenk
Der kleine Band ist auch deshalb ein prächtiges Abschiedsgeschenk für alle, die Gereon Rath und Charly begleitet haben, weil er, in Leinen gebunden, mit Kat Menschiks wunderschönen Kollagen ausgestattet ist. Diesmal in kräftigem Braunorange und ebenso schön gezeichnet und arrangiert wie schon in den beiden Bänden „Moabit“ und „Mitte“, in denen Kutscher die Geschichten einiger Figuren aus seiner Reihe in den Focus gestellt hat. Dieses reich illustrierte Buch setzt nun einen besonders schönen Schlussakkord.
(Lore Kleinert)
Volker Kutscher, *1962 in Lindlar bei Köln, Journalist, Autor zahlreicher Kriminalromane, mehrfach ausgezeichnet, lebt in Köln und Berlin
Volker Kutscher "Westend"
Illustriert von Kat Menschik
Verlag Galiani Berlin 2025, 110 Seiten, 23 Euro
eBook 12,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Volker Kutscher "Olympia"